Suna
die Einkaufstaschen in der Küche auf den Tisch.
Sie zog ihre Strickjacke aus und legte sie nicht wie sonst über den Stuhl, sondern ging zurück zur Eingangstür, um sie dort an den Haken zu hängen.
Da sah sie den Brief im Postkasten liegen.
Sie las. Dann las sie noch einmal.
Bitte melden Sie sich, es geht um Ihre Tochter Marina stand da. Marina. Eindeutig. Dann schossen ihr die Tränen in die Augen und sie hörte nicht das Tock-Tock von Andruschs Krücken auf dem Holzboden.
»Was hast du?«, fragte Andrusch.
»Da«, sagte Julka und schob ihm den Zettel hin. »Lies selber.«
Andrusch las.
Dann legte er seiner Frau den Arm um die Schultern und sagte nur: »Siehst du. In Berlin ist sie.«
»Ich soll mich melden, steht hier«, sagte Julka. »Meinst du, ihr ist was passiert?«
»Was soll denn passiert sein?«
»Sie hat nicht selber geschrieben. Sondern eine, die Luisa heißt.«
»Nimm dir einen Kaffee, dann rufen wir Tanja an«, sagte Andrusch sachlich, aber an seinem alten Gesicht sah sie deutlich, wie bewegt er war.
»Luisa aus Berlin.«
»Wir fragen Tanja, warte doch einfach.«
»Einfach!«, schimpfte Julka und merkte erst da, wie weich ihr die Knie geworden waren an ihrem Geburtstag.
»Nur eine Adresse, Andrusch, wir können doch jetzt nicht nach Berlin fahren?«
»Warte, gleich ist Tanja da, dann beraten wir.«
Er hatte bereits den Hörer in der Hand.
Julka wird ihre Tochter wiedersehen!
Sie überlegt schon, wie sie ihr am besten von allem erzählen kann, was Marina wissen muss von ihrer Familie und was über ihre Mutter. Und ganz genau wird sie aufpassen, kein falsches Wort verwenden und keines zu viel sagen, damit sie sie nicht wieder verliert. Was ist schon ein kleiner Satz, gesprochen in einer Winternacht.
Ich hatte es für einen geschickten Schachzug gehalten, einen Brief zu schreiben und so zu tun, als wäre Luisa Wackermann eine andere Person als Marina. Wie im Netz. So könnte ich sehen, wie Julka Lukic reagiert. Ich würde meiner Mutter begegnen können, ohne mich zu erkennen geben zu müssen. Wenn es schiefging, wäre nichts verloren. Als würde ich in einem Computerspiel einen Spielstand anlegen, zu dem ich jederzeit zurückkehren könnte. So war mein Plan.
Zum Glück denkt meine Schwester Tanja nicht halb so kompliziert! Die hat nämlich einfach bei der Auskunft angerufen und die Telefonnummer von Luisa Wackermann rausbekommen, so dass zwei Tage nachdem ich meinen Brief in den Kasten geworfen hatte mein Telefon klingelte.
»Luisa Wackermann«, sagte ich.
»Hier ist Tanja«, sagte Tanja, »was ist mit meiner Schwester?«
»Nichts«, sagte ich wahrheitsgemäß, kannte ich eine Tanja?
»Die Mama macht sich ziemlich Sorgen«, sagte Tanja unbeirrt.
»Warum denn?«, fragte ich und dachte in dieser Sekunde doch nicht daran, dass diese Mama meine Mutter sein könnte!
»Weil du geschrieben hast, sie soll sich melden, und jetzt denkt sie, die Marina liegt in einem Krankenhaus und wartet auf eine Knochenmarkspende oder so. Sie schaut viel Fernsehen«, sagte Tanja.
Nein, Marina liege nicht in einem Krankenhaus und erfreue sich auch sonst recht guter Gesundheit, erklärte ich, erschrocken über die unvorhergesehene Wirkung, die mein sorgsam konzipierter Brief, der Familienzusammenführungscoup, entfaltet hatte. Eine verängstigte Mutter hatte ich nicht eingeplant: Ich ließ mein Inkognito platzen und verstieg mich in komplizierte und atemlose Ausführungen über die langen Jahre, die ich schon im Besitz der Adresse gewesen war, meine Unsicherheiten während der Suche, meine vielleicht egoistischen Verwirrungen wäh rend des Jugoslawienkrieges, meine Unklarheit über die Motivlage, die schlussendlich zur Adoption geführt hatte …
»Ich geb sie dir mal«, sagte Tanja seelenruhig.
Der Stimme nach stellte ich mir Julka Lukic als eine gemütliche Mittfünfzigerin mit etwas zu viel Hüftspeck vor, aus irgendwelchen Gründen umklammerte sie in meiner Vorstellung eine altmodische Handtasche. Sie trug Dauerwelle und ein blaues Kostüm, und spätestens jetzt wirst du dich kaputtlachen, denn du weißt ja, dass Oma Julka nicht einmal für Geld ein Kostüm anziehen würde und schon gar kein blaues! Weiß der Kuckuck, warum ich das dachte! Aber so war meine Vorstellung von einer jugoslawischen Mamitschka, die sehnsuchtsvoll auf einem Sofa sitzt und mit ihrer wiedergefundenen Tochter telefoniert.
Weit gefehlt.
»Warum meldsch dich du erschd jetzt?«, sagte sie nämlich aufgebracht, in ihrem
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