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Sunset - King, S: Sunset - Just After Sunset

Titel: Sunset - King, S: Sunset - Just After Sunset Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephen King
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um den Inhalt der Mappe anzufertigen, die er mir reicht, ehe er auf die Couch zusteuert. Es handelt sich um Tabellen. Doch statt Ausgaben und Einnahmen stellen diese Listen das komplexe Terrain von N.s Obsessionen dar. Die ersten zwei Blätter tragen die Überschrift ZÄHLEN , die nächsten zwei BERÜHREN , die letzten sechs ORDNEN .Während ich sie flüchtig durchblättere, wundere ich mich, wie er überhaupt noch Zeit für andere Tätigkeiten findet.Aber Zwangsneurotiker schaffen es fast immer irgendwie.Wieder erscheint vor meinen Augen das Bild unsichtbarer Raubvögel, die ihn umschwärmen und ihm in blutigen Bissen das Fleisch herausreißen.
    Als ich aufschaue, liegt er auf der Couch, die Hände fest über der Brust gefaltet. Bevor er sich in diese Position begeben hat, hat er noch schnell die Vase und die Kleenexschachtel umarrangiert, damit sie eine Diagonale bilden. Bei den Blumen handelt es sich heute um weiße Lilien. Bei ihrem Anblick muss ich unwillkürlich an Begräbnisse denken.
    »Fordern Sie mich bitte nicht auf, sie zurückzustellen«, sagt er entschuldigend, aber mit fester Stimme. »Lieber gehe ich.«
    Ich versichere ihm, dass ich nicht die Absicht habe, so etwas von ihm zu verlangen. Die Tabellen hochhaltend, beglückwünsche ich ihn zu ihrer professionellen Gestaltung. Er zuckt die Achseln. Dann erkundige ich mich, ob sie einen Gesamtüberblick enthalten oder nur die letzte Woche abdecken.
    »Nur die letzte Woche«, sagt er. Auch das klingt eher teilnahmslos, und ich kann mir auch vorstellen, warum. Ein Mann, dem Raubvögel das Fleisch von den Knochen hacken, interessiert sich nicht für die Beleidigungen und Verletzungen, die er im letzten Jahr oder in der letzten Woche erlitten hat. Ihm geht es nur um das Heute. Und um die mehr als ungewisse Zukunft.
    »Das sind doch bestimmt zwei- oder dreitausend Einträge«, sage ich.
    »Vorgänge. So nenne ich sie. Es sind sechshundertvier Zählvorgänge, achthundertachtundsiebzig Berührvorgänge und zweitausendzweihundertsechsundvierzig Ordnungsvorgänge.Alles gerade Zahlen, wie Sie bemerken werden. Insgesamt eine Summe von dreitausendsiebenhundertachtundzwanzig, ebenfalls eine gerade Zahl.Wenn man die einzelnen Ziffern dieser Summe – 3728 – zusammenrechnet, erhält man zwanzig, auch gerade. Eine gute Zahl.« Er nickt bestätigend vor sich hin. »Teilt man 3728 durch zwei, kommt eintausendachthundertvierundsechzig heraus. Die Quersumme von 1864 ist neunzehn, eine mächtige ungerade Zahl. Mächtig und schlecht.« Ein leiser Schauer überläuft ihn.
    »Sie sind bestimmt müde«, sage ich.
    Er reagiert weder mit Worten noch mit einem Nicken, aber seine Antwort ist unmissverständlich. Wieder rinnen ihm die Tränen über die Wangen zu den Ohren. Es widerstrebt mir, ihm noch mehr aufzubürden, aber mir ist eines klar:Wenn wir uns nicht sofort an die Arbeit machen – »nur nicht lange fackeln«, würde meine Schwester Sheila sagen -, wird er überhaupt nicht mehr dazu in der Lage sein. Schon jetzt fallen mir äußere Anzeichen des Niedergangs auf (zerknittertes Hemd, mäßige Rasur, ungepflegte Frisur), und wenn ich seine Kollegen auf ihn ansprechen würde, würden sie bestimmt diese vielsagenden unruhigen Blicke austauschen. Die Tabellen sind auf ihre Art erstaunlich, aber N. geht eindeutig die Kraft aus. Ich sehe keine andere Möglichkeit, als direkt zum Kern der Sache vorzudringen, und solange dieser Kern nicht erreicht ist, gibt es weder Paroxetin noch Fluoxetin oder sonst was.
    Ich frage ihn, ob er bereit ist, mir von den Ereignissen im letzten August zu berichten.
    »Ja«, sagt er, »deswegen bin ich ja gekommen.« Er nimmt mehrere Taschentücher aus der ewigen Schachtel und wischt sich die Wangen ab. Matt, sehr matt. »Aber, Doc … sind Sie sich sicher, dass Sie das hören wollen?«
    So eine Frage und so einen Ton zögernden Mitgefühls habe ich noch von keinem Patienten gehört. Ja, ich sei mir sicher, sage ich. Meine Aufgabe sei es, ihm zu helfen, aber das könne ich nur, wenn er bereit sei, sich selbst zu helfen.
    »Selbst wenn Sie Gefahr laufen, so zu enden wie ich? Das könnte nämlich passieren. Ich bin verwirrt, aber hoffentlich noch nicht so panisch wie ein Ertrinkender, der jeden mit in die Tiefe reißt, der ihn retten will.«
    Ich sage ihm, dass ich das nicht ganz verstehe.
    »Ich bin hier, weil sich das alles vielleicht nur in meinem Kopf abspielt«, sagt er und klopft sich an die Schläfe, als wollte er mir zeigen, wo sein Kopf ist.

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