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Sunset - King, S: Sunset - Just After Sunset

Titel: Sunset - King, S: Sunset - Just After Sunset Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephen King
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und frisch zugleich. Sie wissen bestimmt, was ich meine. Es ist ein alter Geruch. Und in diesen Feldweg bog ich also ein.
    Er war holprig und an einigen Stellen fast weggeschwemmt. Außerdem war es schon recht spät, und ich bekam allmählich Hunger. Es muss so gegen sieben Uhr abends gewesen sein, und ich hatte noch nichts gegessen. Fast wäre ich wieder umgekehrt, doch dann wurde der Weg besser und ging nicht mehr abwärts, sondern aufwärts. Der Geruch war jetzt stärker. Als ich das Radio ausschaltete, konnte ich den Fluss auch hören – nicht laut, nicht nahe, aber er war da.
    Dann lag auf einmal ein Baum über dem Weg, und ich stand schon kurz davor, doch noch umzukehren. Das wäre kein Problem gewesen, auch wenn es keinen Platz zum Wenden gab. Ich hatte mich höchstens eine Meile von der Route 117 entfernt und hätte höchstens fünf Minuten gebraucht, um rückwärts rauszufahren. Inzwischen bin ich davon überzeugt, dass in unserem Leben irgendetwas existiert, eine helle Kraft, die mir diese Gelegenheit gab. Ich glaube, das letzte Jahr wäre für mich völlig anders verlaufen, wenn ich einfach den Rückwärtsgang eingelegt hätte. Aber ich habe es nicht getan. Dieser Geruch nämlich … er erinnert mich immer an meine Kindheit. Außerdem war über der Hügelkuppe ein großes Stück Himmel zu erkennen. Dort oben wichen die Bäume zurück – ein paar Kiefern, hauptsächlich aber krüppelige Birken -, und ich dachte, da muss ein Feld sein. Und wenn es so war, zog es sich wahrscheinlich bis zum Fluss hinunter. Mir kam zwar auch der Gedanke, dass dort oben ein guter Platz zum Wenden sein müsste, aber das war nicht so wichtig wie die Vorstellung, von diesem erhöhten Punkt aus eine Aufnahme des Androscoggin bei Sonnenuntergang machen zu können. Ich weiß nicht, ob Sie sich noch erinnern können, aber letzten August hatten wir einige spektakuläre Sonnenuntergänge.
    Also stieg ich aus und schaffte den Baum weg. Es war eine von den krüppeligen Birken, die so verfault war, dass sie mir fast unter den Händen zerfiel. Als ich dann wieder im Wagen saß, wäre ich trotzdem beinahe umgekehrt. Es gibt diese helle Kraft im Leben wirklich; ich glaube fest daran. Aber irgendwie hatte ich das Gefühl, den Fluss jetzt deutlicher zu hören, nachdem der Baum weg war. Eine blöde Vorstellung, ich weiß, aber so kam es mir tatsächlich vor. Also legte ich den niedrigsten Gang ein und fuhr den kleinen Toyota 4Runner das letzte Hügelstück nach oben.
    Ich kam an einem kleinen Schild vorbei, das an einen Baumstamm geheftet war. ACKERMAN’S FIELD, JAGEN VERBOTEN – KEIN DURCHGANG stand darauf. Die Bäume wichen zurück, zuerst links, dann rechts, und dann lag es vor mir. Es war wirklich atemberaubend. Ich erinnere mich kaum noch, dass ich den Motor abstellte und ausstieg, und ich weiß nicht mehr, dass ich mir die Kamera schnappte, aber es muss so gewesen sein, denn ich hatte sie in der Hand, und die Objektivtasche stieß mir ans Bein, als ich an den Rand des Feldes kam. Es war ein Anblick, der mich voll ins Herz traf und mich ganz plötzlich aus meinem Alltagsleben herausriss.
    Die Wirklichkeit ist ein Rätsel, Dr. Bonsaint, und das Alltagsgewebe ist das Tuch, das wir darüberbreiten, um ihre Helligkeit und Dunkelheit zu kaschieren. Ich glaube, aus dem gleichen Grund bedecken wir auch die Gesichter von Leichen. In den Gesichtern von Toten erkennen wir eine Art Tor. Es ist uns verschlossen … aber wir wissen, dass es nicht immer so bleiben wird. Eines Tages öffnet es sich für jeden, und jeder muss es passieren.
    Es gibt jedoch Orte, wo das Tuch fadenscheinig ist und die Realität dünn wird. Das Gesicht darunter lugt hindurch … allerdings nicht das Gesicht eines Toten. Obwohl das fast noch besser wäre. Das Ackerman’s Field ist so ein Ort, und deswegen muss man sich auch nicht wundern, dass der Besitzer niemanden auf sein Grundstück lassen will.
    Der Tag verblasste. Unten und oben abgeflacht, saß die Sonne als roter Ball am westlichen Horizont. In ihrem Widerschein wand sich in gut acht Meilen Entfernung der Fluss – eine blutige Schlange, deren Geräusche durch die stille Luft bis zu mir heraufwehten. Dahinter erstreckten sich über mehrere Hügelkämme bis zum äußersten Horizont blaugraue Wälder. Weder Häuser noch Straßen waren zu sehen. Kein einzigerVogel sang. Es war, als wäre ich vierhundert Jahre zurückversetzt worden. Oder vier Millionen Jahre. Die ersten weißen Schwaden von Bodennebel erhoben sich aus

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