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Sunset - King, S: Sunset - Just After Sunset

Titel: Sunset - King, S: Sunset - Just After Sunset Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephen King
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aber dennoch äußerst real. Erst ein Psychiater, der Geschick und Glück mitbringt, kann sie mit seiner eigenen Form von Luminol ans Licht bringen. Das Verwunderliche daran ist eigentlich, dass so viele Zwangsneurotiker trotzdem ein produktives Leben führen. Sie arbeiten, sie essen (häufig nicht genug oder aber zu viel, sicher), sie gehen ins Kino, sie schlafen mit ihrer Freundin oder ihrem Freund, ihrer Frau oder ihrem Mann … und die ganze Zeit werden sie von diesenVögeln bedrängt, die kleine Fleischstücke aus ihnen herauspicken.
    »Ich berühre viele Dinge«, sagt er, und wieder schenkt er der Decke sein bezaubernd mattes Lächeln. »Alles, was Sie sich vorstellen können.«
    Zählen ist also wichtig, fasse ich zusammen, aber Berühren ist noch wichtiger. Und was steht noch darüber?
    »Ordnen«, sagt er, und plötzlich schüttelt es ihn am ganzen Körper wie einen Hund, der im kalten Regen draußen gelassen wurde. »O Gott.«
    Mit einem Ruck setzt er sich auf und schwingt die Beine über den Couchrand.Auf dem Tisch neben ihm steht außer der ewigen Kleenex-Schachtel auch noch eine Blumenvase. Mit schnellen Bewegungen platziert er die Schachtel und die Vase so, dass sie diagonal zueinander stehen. Dann nimmt er zwei Tulpen aus der Vase und legt sie parallel hin, so dass die eine Blüte die Kleenex-Schachtel und die andere die Vase berührt.
    »Jetzt ist es sicher.« Er zögert und nickt schließlich, als hätte er sich innerlich bestätigt, dem richtigen Gedanken zu folgen. »Das hält die Welt aufrecht.« Wieder verharrt er. »Fürs Erste zumindest.«
    Ich schaue auf die Uhr. Die Zeit ist um, aber für die eine Sitzung haben wir schon einiges geschafft.
    »Nächste Woche«, sage ich. »Selbe Stelle, selbe Welle.« Manchmal betone ich diesen kleinen Scherz als Frage, aber nicht bei N. Er muss wiederkommen, das weiß er ganz genau.
    »Kein Zaubermittel, hm?« Diesmal ist das Lächeln so traurig, dass es fast nicht zu ertragen ist.
    Ich weise ihn darauf hin, dass er sich vielleicht besser fühlen wird. (Wie jeder Psychiater weiß, kann so eine positive Suggestion nie schaden.) Dann fordere ich ihn auf, sein Ambien und die »grünen Mottenpillen« – Lunesta, wie ich annehme – wegzuwerfen. Wenn sie ihm nachts nichts nutzen, dann hat es keinen Sinn, das Risiko einzugehen, das sie untertags für ihn darstellen. Beim Autofahren einzuschlafen, wäre sicher die schlechteste Lösung.
    »Da haben Sie Recht«, sagt er. »Doc, wir haben noch kein Wort über die Grundursache verloren. Ich kenne sie …«
    Dazu kommen wir vielleicht nächste Woche, unterbreche ich ihn. Aber ich wolle ihm noch eine Hausaufgabe mitgeben. Er soll eine dreiteilige Aufstellung für mich machen: Zählen, Berühren und Ordnen. Ob das möglich sei?
    »Ja«, sagt er.
    Fast beiläufig frage ich ihn, ob er schon einmal an Selbstmord gedacht hat.
    »Die Idee ist mir in den Sinn gekommen, aber ich habe so viel zu tun.«
    Eine interessante und ziemlich beunruhigende Antwort.
    Ich gebe ihm meine Karte und fordere ihn auf, mich zu jeder Zeit – ob Tag oder Nacht – anzurufen, falls ihm die Vorstellung eines Selbstmords auf einmal verlockender erscheinen sollte. Er verspricht es mir. Allerdings tun sie das fast alle.
    An der Tür lege ich ihm die Hand auf die Schulter. »Halten Sie die Ohren steif.«
    Blass und ernst sieht er mich an, ein Mensch, dem unsichtbare Vögel das Fleisch von den Knochen nagen.
    »Kennen Sie zufällig ›Der große Pan‹ von Arthur Machen?«
    Ich schüttle den Kopf.
    »Das ist die furchtbarste Erzählung, die je geschrieben wurde«, sagt er. »An einer Stelle sagt eine Figur: ›Das Gelüst siegt stets.‹ Aber sie meint eigentlich nicht Gelüste. Sie meint den inneren Zwang.«
    Eigentlich sollte ich ihm ein Antidepressivum wie Paroxetin oder sogar Fluoxetin verschreiben. Aber erst muss ich noch etwas mehr über diesen interessanten Patienten in Erfahrung bringen.
    7. JUNI 2007
14. JUNI 2007
28. JUNI 2007
    Zur nächsten Sitzung bringt N. seine »Hausaufgaben« mit, aber ich habe auch nichts anderes erwartet. Es gibt manches auf der Welt, worauf kein Verlass ist, und viele Menschen, denen man nicht trauen kann, doch bei Zwangsneurotikern darf man sich sicher sein, dass sie ihre Pflichten erledigen, wenn sie nicht schon im Sterben liegen.
    Seine Aufstellungen sind zugleich komisch, traurig und einfach nur schrecklich. Er ist Wirtschaftsprüfer von Beruf, und wahrscheinlich hat er eines seiner Buchhaltungsprogramme benutzt,

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