Sunset - King, S: Sunset - Just After Sunset
41. Auf dem Heimweg hielt sie oft noch an Bobby Tricketts Antiquariat, das zwar weit größer war als das Häuschen ihres Vaters, aber trotzdem wie eine urige Muschelhütte wirkte. Dort kaufte sie alte Krimis von Raymond Chandler und Ed McBain, deren vergilbte, angenehm müffelnde Seiten ihr so nostalgisch vorkamen wie der alte Ford-Kombi mit Holzverschalung, den sie eines Tages die Bundesstraße entlangkutschieren sah, mit zwei Liegestühlen auf dem Dach und einem abgewetzten Surfboard, das hinten herausragte. Bücher von John D. MacDonald brauchte sie nicht zu kaufen; ihr Vater hatte die ganze Sammlung in seinem Orangenkisten-Bücherbord gehortet.
Ende Juli lief sie schon sechs oder sogar sieben Meilen pro Tag. Ihre Brüste waren nur noch kleine Hubbel, und ihr Hintern existierte schon fast nicht mehr, und sie hatte zwei der leeren Borde ihres Vaters mit Büchern vollgestellt, die Titel wie Dead City und Der Gejagte trugen. Nie wurde abends der Fernseher eingeschaltet, nicht einmal für die Wettervorhersage. Der alte PC ihres Vaters blieb dunkel. Sie kaufte sich nie eine Zeitung.
Ihr Vater rief sie jeden zweiten Tag an, fragte aber nicht mehr, ob er sich »losreißen« und zu ihr runterkommen solle, nachdem sie ihm gesagt hatte, sie werde es ihn schon wissen lassen, wenn sie bereit sei, ihn zu sehen. Einstweilen, sagte sie, sei sie weder selbstmordgefährdet (was stimmte) noch überhaupt deprimiert (was nicht stimmte), und essen tue sie genügend. Das reichte ihm schon. Sie waren immer ehrlich miteinander umgegangen. Zudem wusste sie, dass der Sommer eine arbeitsreiche Zeit für ihn war – alles, was nicht getan werden konnte, wenn es auf dem Campus (den er immer die Fabrik nannte) von Studenten wimmelte, musste zwischen dem 15. Juni und dem 15. September erledigt werden, wenn keiner da war außer den Teilnehmern an Sommerkursen und akademischen Konferenzen, sofern die College-Verwaltung Interessenten dafür hatte gewinnen können.
Außerdem hatte er eine Freundin, Melody mit Namen. Em besuchte die beiden nur ungern – es war ihr irgendwie peinlich -, aber sie wusste, dass Melody ihrenVater glücklich machte, also erkundigte sie sich stets nach ihrem Befinden. Bestens, entgegnete ihr Vater unweigerlich. Mel ist munter wie ein Eichkätzchen.
Einmal rief sie Henry an, und einmal rief Henry sie an. An dem Abend, als er sie anrief, war Em sich ziemlich sicher, dass er betrunken war. Er fragte sie noch einmal, ob es aus sei, und sie antwortete noch einmal, sie wisse es nicht, was aber gelogen war. Wahrscheinlich gelogen.
Nachts schlief sie wie im Koma. Anfangs hatte sie schlimme Träume – durchlebte immer und immer wieder den Morgen, an dem sie Amy tot vorgefunden hatten. In manchen ihrer Träume war das Baby schwarz angelaufen wie eine verfaulte Erdbeere. In anderen – und das waren die schlimmeren – fand sie eine nach Luft ringende Amy vor und rettete sie durch Mund-zu-Mund-Beatmung. Nur um dann mit der Gewissheit aufzuwachen, dass Amy immer noch tot war. Einmal erwachte sie während eines Gewitters aus einem jener Träume, glitt nackt aus dem Bett zu Boden und weinte, die Ellbogen auf den Knien aufgestützt, die Wangen zu einer Fratze hochgeschoben, während die Blitze über den Golf zuckten und flüchtige blaue Muster auf die Wand warfen.
Je mehr sie über sich hinauswuchs – und jene legendäre Grenzen des Durchhaltevermögens auslotete -, desto mehr ließen die Träume nach oder vollzogen sich unterhalb der Reichweite ihrer Erinnerung. Nach und nach wachte sie ausgeruhter auf, nicht so sehr erfrischt als vielmehr entspannt bis ins Mark. Und obwohl jeder Tag im Grunde der gleiche war wie der vorige, begann sie, jeden als etwas Neues zu empfinden – etwas Eigenes – anstatt nur als eine Verlängerung des ewig Alten. Eines Tages wachte sie mit dem Gefühl auf, dass Amys Tod nun etwas war, was geschehen war, anstatt etwas, was fortwährend geschah .
Sie beschloss, ihren Vater einzuladen – sollte er ruhig herkommen und Melody mitbringen, wenn er wollte. Sie würde ihnen ein schönes Essen vorsetzen. Sie könnten auch über Nacht bleiben (schließlich war es ja sein Haus). Und dann begann sie, darüber nachzudenken, was sie mit ihrem wirklichen Leben machen wollte, dem auf der anderen Seite der Zugbrücke, das sie bald wieder aufnehmen würde: was sie davon bewahren und was sie abstoßen wollte.
Bald würde sie anrufen, sagte sie sich. In einer Woche, höchstens zwei. Die Zeit war noch nicht reif,
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