Sunset - King, S: Sunset - Just After Sunset
gehoben.«
»Danke«, sagte sie. Sie war gerührt. Plötzlich kam ihr ein Gedanke, und sie lächelte. »Hat mein Dad Sie gebeten, ein Auge auf mich zu haben?«
Deke schüttelte den Kopf. »Niemals. Das würde er nie tun. Nicht sein Stil. Er würde Ihnen aber dasselbe sagen wie ich – Jim Pickering ist kein sehr netter Mensch. Ich würde einen Bogen um ihn machen. Falls er Sie auf einen Drink hereinbittet oder auch nur auf eine Tasse Kaffee mit ihm und seiner ›Nichte‹, würde ich ablehnen. Und falls er Sie auf sein Boot einlädt, würde ich erst recht ablehnen.«
»Ich hab kein Interesse an Bootsfahrten«, sagte sie. Sie war nur daran interessiert, ihre Arbeit auf Vermillion Key zu beenden. Sie hatte das Gefühl, dass sie fast so weit war. »Ich sollte wohl lieber mal los, bevor es zu regnen anfängt.«
»Ach, regnen wird’s kaum vor fünf«, sagte Deke. »Aber falls ich mich irre, wird’s Ihnen eh nichts ausmachen.«
Sie lächelte wieder. »Stimmt. Im Gegensatz zur landläufigen Meinung lösen sich Frauen im Regen nicht auf. Ich werde Dad von Ihnen grüßen.«
»Tun Sie das.« Er bückte sich, um seine Zeitung aufzuheben, hielt dann aber inne und blickte unter seinem komischen Hut hervor zu ihr auf. »Wie geht es Ihnen denn eigentlich?«
»Besser«, sagte sie. »Von Tag zu Tag besser.« Sie machte kehrt, um die Inselstraße entlang zur kleinen Grashütte zurückzulaufen. Dabei hob sie die Hand, und im gleichen Moment segelte der Reiher, der auf dem Geländer gesessen hatte, mit einem Fisch im langen Schnabel an ihr vorüber.
Nummer 366 entpuppte sich als der Bunker, und zum ersten Mal, seit sie nach Vermillion gekommen war, stand das Tor offen. Oder war es schon offen gewesen, als sie auf dem Weg zur Brücke daran vorbeigelaufen war? Sie konnte sich nicht entsinnen – aber natürlich trug sie jetzt eine Sportuhr, ein klobiges Ding mit einer Digitalanzeige, um ihre Geschwindigkeit messen zu können. Vermutlich hatte sie gerade auf die Uhr gesehen, als sie an dem Haus vorbeikam.
Fast wäre sie vorbeigelaufen, ohne abzubremsen – der Donner klang schon bedrohlich nah -, aber sie trug ja nun nicht gerade einen Tausend-Dollar-Wildlederrock von Jill Anderson, bloß eine Kombination vom Athletic Attic: Shorts und ein T-Shirt mit dem Nike-Logo. Und was hatte sie zu Deke gesagt? Frauen lösen sich im Regen nicht auf. Also bremste sie, drehte ab und warf einen Blick in die Einfahrt. Es war reine Neugier.
Sie hielt den Mercedes, der im Hof stand, für einen 450 SL, weil ihr Vater auch so einen hatte, obwohl seiner inzwischen schon zehn Jahre alt (vielleicht auch zwölf) und dieser hier brandneu war. Er war rot wie ein Liebesapfel, die Karosserie leuchtete selbst noch unter dem verdüsterten Himmel. Der Kofferraum stand offen. Ein Bündel langes blondes Haar hing heraus. Und es war Blut in dem Haar.
Hatte Deke gesagt, das Mädchen bei Pickering sei blond? Das war das Erste, was sie sich fragte, und sie war so geschockt, so komplett verdattert, dass sie sich nicht einmal wunderte. Es schien eine völlig vernünftige Frage zu sein, und die Antwort war, dass Deke es nicht gesagt hatte. Nur, dass sie jung sei. Und eine Nichte. Mit diesem ironischen Augenrollen.
Der Donner grollte. Jetzt schon fast senkrecht über ihr. Der Hof war bis auf den Wagen (und die Blonde im Kofferraum) leer. Auch das Haus wirkte verlassen: abweisend und mehr denn je wie ein Bunker. Selbst die Palmen, die ringsumher schwankten, konnten ihm nicht die Strenge nehmen. Es war zu groß, zu kahl, zu grau. Es war ein hässliches Haus.
Em meinte, ein Stöhnen zu hören. Sie rannte durch das Tor und dann über den Hof zu dem offenen Kofferraum, ohne zu bedenken, was sie tat. Sie blickte hinein. Das Mädchen im Kofferraum hatte nicht gestöhnt. Ihre Augen waren offen, aber sie war mit Dutzenden von Messerstichen übersät, und ihre Kehle war von einem Ohr zum anderen aufgeschlitzt.
Em stand da und schaute, zu entsetzt, um sich zu bewegen, zu entsetzt, um auch nur zu atmen. Dann kam ihr der Gedanke, dass es sich um eine künstliche Tote handelte, eine Filmrequisite. Selbst als dieVernunft ihr sagte, dass das Blödsinn sei, nickte der Teil ihres Verstandes, der für Rationalisierung zuständig war, immer noch hektisch. Reimte sich sogar eine Geschichte zusammen, um den Gedanken zu untermauern. Deke missbilligte Pickering und dessen Damenbekanntschaften? Nun, Pickering konnte Deke wohl auch nicht leiden! Da Ganze war nichts weiter als ein
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