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Super Sad True Love Story

Super Sad True Love Story

Titel: Super Sad True Love Story Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gary Shteyngart
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schneller.
    Hinterher kehrte sie in ihre Ruhestellung auf meinem Schulterblatt zurück und schnüffelte kritisch an der Spur, die sie an meinem Kinn hinterlassen hatte. Ich las weiter. Las laut über die Abenteuer des fiktiven Tomas und seiner vielen Geliebten. Ich überschlug Passagen, suchte nach saftigeren Stellen, um Eunice damit zu füttern. Die Handlung verlegte sich von Prag nach Zürich und wieder zurück nach Prag. Das kleine Land Tschechoslowakei wurde von den imperialistischen Sowjets niedergemacht (die wiederum, was der Autor zur Zeit seiner Niederschrift nicht wissen konnte, nur dreiundzwanzig Jahre später selbst niedergemacht werden würden). Im Buch treffen die Figuren politische Entscheidungen, die am Ende keine Bedeutung mehr haben. Der Kitschbegriff wird zu Recht, wenn auch etwas zu heftig, attackiert. Kundera zwang mich, weiter über meine Sterblichkeit nachzugrübeln.
    Eunice’ Blick war weicher geworden, das Licht war aus ihren Augen gewichen, aus diesen beiden schwarzen Kreisen, die normalerweise mit einer unbändigen Kombination aus Wut und Verlangen aufgeladen waren.
    «Kannst du dem Ganzen folgen?», fragte ich. «Vielleicht sollten wir aufhören.»
    «Ich höre zu», flüsterte sie fast.
    «Aber
verstehst
du es auch?», fragte ich.
    «Ich habe nie so richtig gelernt, Texte zu lesen», sagte sie. «Bloß, sie auf Infos hin zu scannen.»
    Ich stieß ein kurzes, dummes Lachen aus.
    Sie fing an zu weinen.
    «Liebling», sagte ich, «es tut mir leid. Ich wollte nicht lachen. Oh, Liebling.»
    «Lenny», sagte sie.
    «Sogar ich habe doch Schwierigkeiten, dem zu folgen. Das liegt nicht nur an dir. Lesen ist schwierig. Es wird heute von keinem Menschen mehr erwartet, dass er liest. Wir leben im nachschriftlichen Zeitalter. Im
visuellen
Zeitalter, weißt du. Wie viele Jahre hat es nach dem Niedergang Roms gedauert, bis Dante auftauchte? Viele, viele Jahre.»
    So plapperte ich minutenlang weiter. Sie ging ins Wohnzimmer. Kaum war ich allein, schleuderte ich
Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins
durchs Zimmer. Ich wollte es in Stücke reißen. Ich berührte mein Kinn, noch feucht von ihr. Ich wollte aus der Wohnung rennen, in die verarmte Nacht Manhattans. Ich vermisste meine Eltern. In Zeiten der Not sucht, wer schwach ist, die Starken.
    Im Wohnzimmer hatte Eunice ihren Äppärät aufgeklappt und konzentrierte sich auf die Shoppingseite, die vor dem Zusammenbruch jeglicher Kommunikation gespeichert worden war. Ich sah, dass sie unwillkürlich einen KraftKredit-Stream zum Bezahlen geöffnet hatte, doch jedes Mal, wenn sie ihre Kontodaten eingab, warf sie am Ende nur den Kopf zurück, als hätte sie etwas gestochen. «Ich kann nichts kaufen», sagte sie.
    «Eunice», sagte ich. «Du musst auch nichts kaufen. Geh ins Bett. Wir müssen nicht weiterlesen. Wir müssen nie wieder lesen. Das verspreche ich. Wie können wir lesen, wenn Menschen unsere Hilfe brauchen? Das ist Luxus. Ein dummer Luxus.»
    Im hellen Schein des Morgenlichts rollte Eunice sich endlich neben mir zusammen, von Schweiß bedeckt, geschlagen.Wir ignorierten den Morgen und den Tag. Wir ignorierten auch den folgenden Tag. Doch als ich am dritten Tag aufwachte und die Hitze sich den Weg durchs offene Fenster bahnte, war sie fort. Ich lief ins Wohnzimmer; keine Eunice. Ich lief hinunter ins Foyer. Ich fragte die herumlungernden Alten nach ihrem Verbleib. Ich spürte, wie mein Herz aussetzte und mir das Blut aus Händen und Füßen wich.
    Als sie zwanzig Stunden später endlich wieder auftauchte («Ich bin spazieren gegangen. Ich musste mal raus hier.
So
gefährlich ist es nun auch wieder nicht, Lenny. Tut mir leid, wenn du dir Sorgen gemacht hast»), fand ich mich in der üblichen Haltung, auf Knien, wieder und bettelte um Vergebung für eine kaum definierte Sünde, bat um die Rückkehr ihres echten Lächelns und um ihre Freundschaft, flehte sie an, mich nie wieder zu verlassen.
    Ikan, ikan, ikan.

O MEIN GOTT, ICH BIN SO EINE SCHLECHTE FREUNDIN
    Aus Eunice Parks GlobalTeens-Account
    10.   September
    WAPACHUNG-KRISE AUSNAHMENACHRICHT:
    Absender: Joshie Goldmann, Posthumane Dienstleistungen, Geschäftsleitung
    Empfänger: Eunice Park
    Hallo, mein liebes Fräulein Eunice. Wie läuft’s? Na, ich muss zugeben, dass ich unsere kleine Zusammenkunft letzte Woche nicht aus dem Kopf kriegen kann. Ich fahre TOTAL auf dich ab. Diese vierundzwanzig Stunden   – Zeichnen mit Monsieur Cohen (hohoho, jetzt oder nie, Farbtheorie!), Stöbern in den

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