Super Sad True Love Story
Vertrautheitmit der Gegend wiederzuerlangen. Es waren aber nicht bloß die Kreditmasten. Noch mehr hatte sich verändert, seit ich vor einem Jahr nach Rom gegangen war. Es gab zwar noch die ganzen armseligen Geschäfte aus meiner Erinnerung, Läden, die mit vergammeltem Linoleum ausgekleidet waren, «A-OK Pizza Shack» oder so ähnlich hießen und von armen Schluckern frequentiert wurden, die auf der Tastatur eines alten Computers herumhackten und sich dabei das Gesicht mit Pizza-Ölen vollschmierten, Lokale, in deren Ecke eine stockfleckige zehnbändige Ausgabe des
Neuen Lexikons der Populärwissenschaft
aus dem Jahr 1988 auf lesekundige Gäste wartete. Doch die Bevölkerung wirkte zielloser als früher, arbeitslose Männer stolperten über den von Hühnerknochen übersäten Bürgersteig, als hätten sie einen halben Liter Ethanol und nicht bloß ein paar Flaschen
Negra Modelo
getrunken, und ihre Gesichter waren derart von depressiven Stimmungslagen abgestumpft, wie ich es eigentlich nur von meinem Vater kenne. Eine engelsgleiche Siebenjährige mit Zöpfen brüllte in ihren Äppärät: «Das nächste Mal, wenn ich ihren Arsch zu fassen kriege, haue ich der Niggerschlampe eine rein!» Eine alte Jüdin aus meiner Wohnanlage war auf den sonnenheißen Asphalt gefallen, und ihre Freunde hatten sich schützend um sie geschart, während sie sich auf dem Rücken im Kreis drehte wie eine Schildkröte. Am Stacheldrahtverhau, der ein gescheitertes Luxusapartment-Bauprojekt umgab, zog ein Betrunkener in rüschenbesetztem Guayabera-Hemd die Hose herunter und begann sich zu erleichtern. Ich hatte genau diesen Herrn schon früher öffentlich scheißen sehen, doch seine schmerzverzerrte Miene, die Art und Weise, wie er sich jetzt dabei die nackten Hinterbacken rieb, als wärmte ihn die Junisonne nicht genügend, das abgestumpfte Grunzen, das er in den wolkenstreifigen Hafenhimmel unsererStadt emporschickte: All das gab mir das Gefühl, meine heimatliche Straße entglitte mir, stürzte in den East River, in eine neu entstandene Zeitfalte, in der wir alle unsere Hosen fallen ließen und wütend auf unsere Mutter Erde kackten.
Ein gepanzerter Einsatzwagen mit dem Abzeichen der New Yorker Nationalgarde parkte über einem mannsgroßen Schlagloch auf der verkehrsreichen Kreuzung von Essex Street und Delancey Street, das auf dem Dach montierte Browning-M 2-Maschinengewehr drehte sich im 18 0-Grad - Radius hin und her, wie ein verlangsamtes Metronom vor der belebten, aber friedlichen Straßenszene der Lower East Side. Der gesamte Verkehr auf der Delancey Street war zum Erliegen gekommen. Stummer Verkehr, denn niemand wagte, die Hupe gegen ein Militärfahrzeug zu erheben. Die Straßenecke um mich her leerte sich, bis ich allein und idiotisch in den Gewehrlauf starrte. Panisch hob ich die Hände und befahl meinen Füßen, Reißaus zu nehmen.
Die Feierlaune war mir vergällt. Ich zog die handgeschriebene Liste aus der Tasche und beschloss, sofort Punkt 2 umzusetzen (sich von Joshie beschützen lassen). Vor einem kürzlich geschlossenen Etablissement an der Bowery, das süße Brötchen und heiße Getränke feilgeboten und «Povertea» geheißen hatte, fand ich ein Taxi und dirigierte es in Richtung Upper East Side, zur Festung meines Zweitvaters.
Die Abteilung Posthumane Dienstleistungen der Staatling-Wapachung Corporation hat ihren Sitz in einer im maurischen Stil erbauten ehemaligen Synagoge unweit der Fifth Avenue, ein müde wirkendes, mit Arabesken, überkandidelten Strebepfeilern und anderem Mist überfrachtetes Gebäude, das an einen minder talentierten Gaudí denkenlässt. Joshie hat es für schlappe 80 000 Dollar ersteigert, nachdem die Gemeinde sich vor Jahren auf irgendein jüdisches Schneeballsystem eingelassen hatte und pleitegegangen war.
Das Erste, was mir bei meiner Rückkehr auffiel, war der vertraute Geruch. Die exzessive Verwendung eines bestimmten hypoallergenen biologischen Raumsprays wird bei den Posthumanen Dienstleistungen gern gesehen, denn der Duft der Unsterblichkeit ist komplex. Die Nahrungszusätze, die Speisevorschriften, das ständige Abgeben von Blut- und Hautproben zu verschiedensten physikalischen Untersuchungen, die Angst vor den metallischen Bestandteilen der meisten handelsüblichen Deos, all das ergibt eine eigenwillige Bandbreite postmortaler Aromen, von denen «Sardinenatem» noch der gutartigste ist.
Von ein, zwei Ausnahmen abgesehen, habe ich seit meinem dreißigsten Geburtstag keine
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