Superdaddy: Roman (German Edition)
Behäbig schlurfte er mit mir durch den Gang, der zur Hinterbühne führte.
»Die erste Hälfte war nicht schlecht«, bemerkte er. »Aber jetzt legst du noch ’ne Schippe drauf, oder?«
Mir fiel ein, an wen er mich erinnerte: an meinen Deutschlehrer aus der fünften Klasse. Der hatte sich nie damit abgefunden, dass ich, der Sohn eines Baumschulhilfsarbeiters, auf dem Gymnasium gelandet war. Und dann noch Bester in Deutsch geworden war. Jedes einzelne Lob von ihm schmeckte sauer und enthielt irgendeine Gemeinheit. Und in diesem Moment hatte ich eine Eingebung. Ich sah Hardy, mit dem ich unter normalen Umständen kein Wort gewechselt hätte. Und ich sah Lasse, dem die Hand weh tat und der jemanden brauchte, der ihn drückte, während er weinte. Ich wusste, was ich zu tun hatte. Ich musste zu Lasse. Und weder dieser berühmte Veranstalter noch mein Vertrag noch meine Agentin würden mich davon abhalten.
»Moment«, sagte ich, »das Wichtigste hab ich ja noch vergessen!«
Ich rannte zurück in die Garderobe, knallte die Tür zu, raffte alle Privatklamotten, Schuhe und Requisiten in meine Anzugtasche und guckte mich um. Nein, zum Fenster kam ich nicht raus. Wir waren im ersten Stock. Ich musste durch den Haupteingang. Ich warf den Mantel und die Anzugtasche über meinen Arm und trat erneut in den Gang hinaus. Hardy sah mich fassungslos an.
»Was wird das denn?« Er lächelte dünn.
Ich muss los, wollte ich erklären, mein Sohn hat gerade angerufen, er hat sich die Hand verbrannt, ich muss jetzt bei ihm sein. Stattdessen hörte ich mich sagen: »Das sind die Requisiten für den zweiten Teil.«
»Aha.« Er runzelte die Stirn. »Es sieht eher aus, als wolltest du gehen!«
»Nein, nein!«, sagte ich und lachte. Dämlicher ging’s nicht mehr. Ich spielte ein Programm über Mutproben und verhielt mich so mutig wie Kaiser Wilhelm am Ende des Ersten Weltkriegs. Ich fühlte mich unsagbar elend.
»Na gut«, sagte er. Wir waren an der Hinterbühne angekommen. »Toi, toi, toi!« Er packte mich und spuckte mir drei Mal über die Schulter. Er meinte es bestimmt gut. Aber ich hasste diese Theaterrituale. Ich spuckte nicht zurück, obwohl das angeblich Unglück bringt.
Meine Beine trugen mich auf die Bühne. Anzugtasche und Mantel hatte ich sinnloserweise kurz vorher fallen lassen. Hatte ich nicht eben noch behauptet, es wären Requisiten? Euphorischer Applaus. Eine Grundregel besagt, dass alle Nummern nach der Pause mindestens dreißig Prozent besser ankommen als vor der Pause. Es liegt nicht an den Nummern. Sondern an der Pause. Die Leute stehen zusammen, quatschen, trinken Sekt, einigen sich darauf, es gut zu finden, und folgen einem vom Beginn der zweiten Hälfte unkritisch bis zur letzten Zugabe.
»Wir sind feige beim Bankberater«, fing ich an, »in der Bäckerei und beim Sex.«
Nur ich, Philipp Kirschbaum-Vahrenholz, musste jetzt einmal im Leben mutig sein. Und zwar in diesem Moment. Mir wurde übel. Es war rein biologisch kaum möglich, von einem Text abzuweichen, den man geschrieben, gelernt und ungefähr achtzig Mal genau so gesprochen hatte. Aber ich würde es tun, auch wenn meine Knie zitterten und ich gleich Durchfall bekommen würde.
»Und wissen Sie, was die denkbar größte Mutprobe ist? Die größte Mutprobe –«, ich lächelte mein etwas schiefes Lächeln, auf das die Frauen so abfuhren, »ist es, einfach zu gehen. Mitten in der Vorstellung.«
Ich schnappte mir meine Sachen und ging ruhig und zielstrebig die Treppe hinab ins Publikum, die Anzugtasche über der Schulter, den Mantel überm Arm, links an den Stuhlreihen vorbei zum Ausgang. Ab und zu winkte ich. Die Leute lachten und applaudierten. Natürlich, sie glaubten, dass ich gleich wiederkäme, wahrscheinlich verkleidet. Sie freuten sich, sie ließen sich gerne überraschen. Komik ist Überraschung. Nur dass mit dieser hier wirklich niemand rechnete. Vor allem nicht Hardy. Für ihn war es das größte Desaster. Er musste allen ihr Geld zurückgeben. Er würde mich hassen. Und mich nie wieder engagieren. Und nicht nur Hardy. Aber darüber dachte ich jetzt nicht mehr nach. Nicht jetzt. Nach mir die Sintflut.
2
Charlotte war immer noch nicht da. Sie war auch nicht erreichbar. Es war halb eins in der Nacht, ich lag auf unserem ausgezogenen, unbequemen und nach all den Jahren schmuddelig gelben Schlafsofa im Wohnzimmer und dachte über mein Leben nach. Es musste sich ändern, so viel stand fest. Etwas Grundlegendes lief schief. Aber an den Menschen,
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