Surf
obwohl ich ihn nicht nach seinem Namen gefragt hatte. Er musterte mich und sagte, er sei Mathematikdozent an der Universität. Dabei lächelte er etwas gezwungen, weil er wohl ahnte, warum ich gefragt hatte. Dann lachte er plötzlich und sah auf sein Board. «Jämmerlich», sagte er, «ich weiß.» Sofort wurde er viel lockerer. Später fand ich heraus, dass das typisch für ihn war. Sosehr er auch über die Torheiten anderer Surfer herzog und sich ereiferte, er werde Windschutzscheiben einschmeißen und Autos mit Schlüsseln zerkratzen – wenn er einem anderen Menschen gegenüberstand, war er die Freundlichkeit in Person.
Sauber und grau erschienen im Nieselregen kleine Wellen mit geraden Rändern, auf denen außer uns niemand surfte. Nur Wasser – ich, das Meer, die Luft … und er. Dann paddelte er los, plötzlich, aber nicht hektisch, eine Hand vor die andere, den Kopf gesenkt. Daran war zwar nichts Unsoziales, er ermutigte mich aber auch nicht, ihm zu folgen; so blieb man einfach aufmerksam sitzen, reagierte auf das Wasser und blieb in Bewegung. Mir kam es allerdings so vor, als vermassele er alles; die meisten Wellen brachen genau dort, wo ich mich befand. Wenn man im Wasser rauf- und runterschaukelt, hat man eine ziemlich eingeschränkte Sicht: Im Wellental sieht man gar nichts, auf dem Wellengipfel den Horizont. Als eine kleine Welle Vince anhob, paddelte er darüber hinweg und war außer Sicht. In dem kleinen Wellental vor mir tauchte eine Seegrasknolle von der Größe einer Grapefruit auf – eine medusische Meereshexe, die ihr langes Seegrashaar schüttelte –, und der Otter schwamm rückwärts, eingewickelt in einen Strang Seegras, eine Art Vertäuung gegen die Strömung, die kleinen Ohren gespitzt, damit ihm das Eintauchen eines Pelikans oder das Nahen einer Welle nicht entging. Er schlug etwas auf den flachen Amboss-Stein, der wieder auf seinem Bauch lag, vielleicht eine Miesmuschel. Er hob die Pfote weit hoch und schlug die Muschel mit Wucht auf den Stein, etwa so, wie man eine Nuss öffnet, dann nagte er daran. Ich habe ihn immer nur einen Stein benutzen sehen, aber Otter sollen auch mit Limonadeflaschen Krustentiere aufknacken oder leere Bierdosen aufbrechen, um darin nach Tintenfischen zu fahnden. Ein, zwei Meter entfernt von dem Otter schwamm eine weiße Möwe aufrecht im grauen Wasser und wartete auf Abfälle. Das stille Wasser der Bucht bildete einen überraschenden Kontrast zu den unruhigen Umrissen des Landes, etwa so wie ein Alpensee unter gezackten Berggipfeln. Wasser ist ein Element, dem man – wie Feuer – endlos zusehen kann.
Dann hob eine Welle auch mich empor, und weit weg zu meiner Linken sah ich Vince, der auf der größten Welle des Tages ritt. Anscheinend hatte er ihr Kommen gefühlt , mir aber keinen Tipp geben wollen. Wer wusste schon, wie viele es davon geben würde? Rasch auf den Beinen, zog er einen hohen Bogen, nichts Ausgefallenes. Er surfte nur vom Wellengipfel zum Wellental und wieder zurück, zog im Weißwasser einen Bogen, als die Welle langsamer wurde, trat auf dem Brett weiter vor und steuerte hoch, als sie zulegte – das Board ein Symbol für ein fast beiläufiges Begehren. Viele Shortboarder – Wellenreiter mit spitz zulaufenden Brettern um zwei Meter Länge, im Gegensatz zu Longboardern, Wellenreiter mit gerundeten, über zweieinhalb Meter langen Brettern – surfen, als seien sie zur Salzsäule erstarrt. Vinces Stil hingegen war geprägt von seiner Jugend. Er surfte in den sechziger Jahren auf den großen Longboards und in den siebziger Jahren auf den beweglichen kleinen Brettern mit zwei Finnen; er setzte seine Füße ein und dirigierte das Brett mit den Zehen und durch starke Gewichtsverlagerungen. Ich fror und surfte nicht gut, schätzte den Sog und den Überschlag der Wellen immer wieder falsch ein und wurde kopfüber vom Brett geschleudert. Auf dem Weg die Welle hinunter sah ich Vince, der auf derselben Welle startete, nachdem er erst höflich zugeschaut und abgewartet hatte. Während einer langen Pause zwischen zwei Wellen-Gruppen, in der Surfer häufig einfach still dasitzen, sagte ich beiläufig, wie schön ich es hier fände.
Als er mich daraufhin ein wenig schief ansah, schämte ich mich einen Moment wegen meines sentimentalen Anflugs. Doch dann lächelte er überrascht und drehte sich um, blickte hinüber zu den Klippen und Hügeln.
«Es ist der schönste Ort der Welt», erwiderte er ganz ernsthaft. «Und ich habe viele gesehen.» Keine fünf
Weitere Kostenlose Bücher