Surf
Minuten später hatte ich herausgefunden, dass er der Erste hier gewesen war, dass er seit dreißig Jahren am Point surfte und das Riff damals ganz anders, noch viel besser gewesen war. Und das Schönste daran war, in der Zeit war niemand sonst jemals hierher gekommen, keine Fischer, keine Sonnenhungrigen am Wochenende, keine Mountainbike-Spinner und – am wichtigsten – keine Surfer. «Wir haben immer eine Meile weiter oben am Highway geparkt», sagte Vince, «und sind zu Fuß hier heruntergekommen, um die Typen aus dem Hinterland abzuschütteln. Nur etwa zehn Leute kannten diesen Strand. Und wenn irgendwelche Idioten zu nahe parkten – das war in meinen wilderen Zeiten haben wir denen die Scheinwerfer eingeschmissen und einen Zettel an die Windschutzscheibe geklemmt, auf dem stand, wo sie gefälligst parken und auf welchem Weg sie herunterkommen sollten. Dadurch behielten wir den Spot noch fünf Jahre länger für uns, fünf weitere Jahre, ehe er schließlich überlaufen war.» (Mir war zwar nicht ganz klar, wo ich mich da einordnen sollte, schließlich war auch ich erst kürzlich aus dem Hinterland zugereist, aber irgendwie nahm sein Tonfall mich ins Lager der Guten auf.) Damals, erzählte Vince, habe der Farmer den Weg durch seine Felder noch gesperrt, aber aus irgendeinem Grund habe er ihn gemocht und oft hinten auf seinem Pick-up mitgenommen.
«Gestern bist du nicht hier gewesen», wechselte er plötzlich das Thema. Die Feststellung bereitete ihm ein diebisches Vergnügen.
Es hatte mir zu durchwachsen ausgesehen, viel zu windig, aber ich war trotzdem rausgegangen, nur zum Lunch und um die Seele baumeln lassen.
«Am Morgen war es perfekt», sagte er grinsend.
«Perfekt?»
«Zum Niederknien.»
«Was?»
«Perfekt.»
Wir unterhielten uns weiter zwischen einzelnen Sets, legten gelegentliche Pausen ein, in denen wir verschiedenen Wellengipfeln nachjagten – einzelne Teile des Riffs verursachten unterschiedliche Brandungen ziemlich nahe beieinander. Meist dümpelten wir nur dahin, glücklich, dass wir ein paar Ansichten teilten. Als ich ihn fragte, wie er mit dem Wellenreiten angefangen habe, erzählte er, was die meisten Surfer erzählen: wie er als Kind zum ersten Mal auf einem Brett gestanden und genau in dem Moment mit absoluter Sicherheit gewusst habe, dass er für den Rest seines Lebens ein Surfer sein würde. Aufgewachsen war er in den fünfziger Jahren in Chico, im nördlichen Teil des Central Valley. Er hatte mit geklauten Autos Spritztouren durch Kirschbaumplantagen unternommen, hatte Seile an die Stoßstangen der gestohlenen Wagen gebunden und war im Schlepptau über Bewässerungskanäle gesurft. Damals war Santa Cruz noch ein Ferienort für Familien mit schmalem Geldbeutel gewesen, die der lähmenden Hitze im Tal entfliehen wollten. Während die High Society aus dem Country Club in San Francisco weiter südlich nach Carmel und Pacific Grove fuhr – wo seinerzeit London und Sterling ihre Zelte aufgeschlagen hatten –, saß das gemeine Volk in Santa Cruz in der Achterbahn und spazierte auf der Uferpromenade auf und ab. Als Vince bei einem Familienurlaub mit dem Surfen angefangen hatte, saugte er zusammen mit ein paar Freunden Benzin aus Autos ab, klaute Alkohol, um mehr Geld für Essen zu haben, und raste an die Küste. Hier und da wurde mal in ein Strandhaus eingebrochen und eine kleine Party gefeiert. Offenbar hatte er 250 Autos gestohlen, bevor er in der Highschool in die Oberstufe kam, allerdings nur zum Vergnügen, nie hatte er auch nur einen Wagen verkauft. Das alles erzählte er mir ohne jede Angeberei, so wie ein mittlerweile trockener Alkoholiker vom Trinken erzählt. Er erklärte mir nur, dass das Surfen auf ihn keinen schlechten Einfluss gehabt, sondern vielmehr seine kriminellen Neigungen begrenzt und ihn auf den richtigen Weg gebracht habe. Inzwischen musste er, wie viele Uni-Lehrer, nicht mehr allzu viele Pflichtstunden unterrichten und besaß einen guten Pick-up. Da kam ein neuer Set herein; und Vince fand wieder zur richtigen Stelle auf der besten Welle, startete mit einem einzigen Schlag. Viele andere Sportarten erfordern, dass man seine ganze Energie sammelt – man starrt auf den reglosen Berg, schnürt seine Laufschuhe –, doch Surfen ist, so anstrengend es auch sein mag, ein System, in das man sich einstöpselt.
Der Otter kam übrigens nie an Land. Otter können ihr ganzes Leben im Wasser verbringen, ohne es ein einziges Mal zu verlassen, da ihr Fell viermal besser
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