Surf
wüten und die tollsten vier Stunden hervorbringen, die dein Riff in zehn Jahren erlebt hat, um gleich am nächsten Tag erneut aufzufrischen und die Wellen auseinander zu treiben. Irgendwann nimmt man den Zufall in das Muster des Alltags auf, akzeptiert das flüchtige Wesen von Glückseligkeit und vermeidet alle unnötigen zeitlichen Einschränkungen. Doch selbst wenn ich gute Wellen fand, erschien mir die Kälte als eine Art drückende Pflicht; manchmal wollte ich mich nur im Haus verkriechen und heißen Tee trinken. An einem solchen stürmischen Nachmittag ging ich mit einem Kaffee und einem großen Toll House Cookie (mein absolutes Lieblingsgebäck) zum Santa Cruz Surf Museum am Leuchtturm, um mir das obligatorische zermalmte Surfboard anzusehen. In einem kleinen Raum mit der Atmosphäre eines Tempels zeigte das Museum an den Wänden aufgereihte historische Surfbretter, angefangen von Redwood-Planken bis hin zu den neuesten «guns» für extrem große Wellen. Alte Schwarzweißfotos aus einer Zeit, als alles noch einfacher war, zeigten grinsende Jungen; ein älterer Herr in einem Satin-Sakko, das ihn als Mitglied der Santa Cruz Longboarders Association auswies, bekundete, dass der Winter 41 wunderschön gewesen sei. Und dann sah ich es: Riesige Zähne hatten das Fiberglas wie einen Kartoffelchip zermalmt. Es war der handfeste Beweis, den ein Phantom-Mörder hinterläßt, wie die Fußabdrücke eines Yeti oder die Filmaufnahme eines Gespensts. In einer Glasvitrine waren Fotos von Erik Larsen ausgestellt, wie er als überlebendes Opfer mit stark bandagierten Armen im Bett liegt; handgeschriebene Berichte von Ärzten attestieren die tiefen Fleischwunden und den hohen Blutverlust. Fetzen seines Surfanzugs, die ebenfalls hinter Glas ausgestellt werden, sahen aus, als hätte man sie durch eine Häckselmaschine gelassen. Eine der Bildunterschriften verglich Bisse zur Verteidigung des Reviers mit solchen zur Nahrungsaufnahme und bewiesen, dass Larsen als Abendessen gedacht war. Haie rechnen mit fettem Robbenfleisch, nicht mit Fiberglas und Neopren, fettlosen Muskeln und Knochen, und spucken Surfer daher meistens wieder aus. Doch der Hai, der Larsen erwischt hatte, war zurückgekommen, um sich einen Nachschlag zu holen.
Na, jedenfalls war Ebbe, ein schwerer Sturm zog auf, und ich vertrödelte meine Zeit damit, meine Mantras herunterzubeten – «es ist wahrscheinlicher, von einem betrunkenen Autofahrer getötet oder vom Blitz erschlagen zu werden» –, und fuhr dann Richtung Norden. Auf der ganzen Fahrt entlang der Küste spürte ich die Bedrohung durch die wahre Wildnis, die Angst, in der Nahrungskette jemanden vor mir zu finden. Das hatte der Mensch stets mit aller Kraft vermieden, ebenso wie schutzlos den Elementen ausgesetzt zu sein oder Sex zum alleinigen Zweck der Fortpflanzung. Zu den Klängen eines Reggae aus meinem Kassettenrecorder: «Bringt ihn um, den weißen Mann, bringt ihn um …», stieg ich in meine Surfermontur. Auf dem Weg huschten verschreckte Waldkaninchen unter die abgestorbenen Hemlocktannen, als ich vorbeiging. Ich paddelte in schiefergrauem und enttäuschend flachem Wasser hinaus und erwischte ein kleines Nichts von einer knöchelhohen Welle, dann trieb ich umher und tröstete mich mit dem trüben Wasser; konzentrierte mich auf die Oberfläche, ignorierte, dass meine Beine in dem milchigen Grün versanken; roch den Salzgeruch, beobachtete das granitfarbene Licht über dem Meer weiter draußen. An bewölkten Tagen bilden Sonne und Schatten seltene dramatische Kontraste wie in einem Schwarzweißfilm. Sonnenstrahlen trafen grell auf ein Fleckchen Meer und hoben das Wasser so hell gegen den schwarzen Hintergrund ab, dass es aussah, als fröstele es und wolle dem Licht entgegenspritzen. Vince war nirgends zu sehen, war seit Tagen nicht mehr hier gewesen. Ich dümpelte ein wenig auf und ab, lag da, die Augen auf Höhe des Wasserspiegels. Noch einmal Ishmael: «Das sind Zeiten träumerischer Stille … wenn man die ruhige Schönheit und den Glanz der Haut des Meeres gewahrt, vergisst man das Tigerherz, das darunter schlägt; und man ist nicht gewillt, sich daran zu erinnern, dass die samtige Pfote unbarmherzige Krallen birgt.» Weit draußen trieb Willie Gonzales, mit gekreuzten Armen beobachtete er das Spiel der Schatten und hielt sich an einem Seegrasstrang als Treibanker gegen die Strömung fest. Hinter ihm tauchte leise und unbemerkt der glänzende Kopf einer Robbe auf. Eine Minute lang beobachtete
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