Surf
und der Rest stand da wie ein erodierender, irdener Totempfahl, ein Stück Kerngehäuse angeschwemmter Prärie. Eines Tages würde es eine Schiefersäule sein, strotzend vor Rankenfußkrebsen und zweischaligen Muscheln, letzten Endes würde es zu einem Unterwasserriff werden.
Einmal, nachdem ich etwas weiter nördlich im Morgengrauen gesurft hatte – ich glitt direkt in die blendende Sphäre der Sonne hinein, paddelte auf von vorne beleuchtete Surfer zu, die golden vor einem schwarzen westlichen Sturmhimmel glühten –, nahm ich eine Welle zum Strand und griff meinen Rucksack. Es war ein herrlicher Sonntagmorgen ohne eine Menschenseele an einem meilenlangen weißen Strand, und ich war zu ebendem Turm hochgeklettert. An seinem Sockel lag an jenem Tag ein fast zwei Meter langer, geköpfter zylindrischer Körper mit hervorquellenden Organen, zerfetzten Muskeln und zerschmetterten Knochen: ein von einem sehr großen Hai geschlachteter See-Elefant. Über mir flogen Spatzen, ein paar Wildblumen wehten um einen alten Windschutz herum, und nur das Rauschen des Meeres war zu hören, das man eigentlich gar nicht mehr als Geräusch wahrnimmt. Kein Gemetzel heute, als wir an der Seite des Turms entlangkletterten und über sein Felsfundament hinaus zu einem weiteren separaten kleinen Planeten voller Leben spazierten: die Stelle des Meeressaums, die nie wirklich überflutet wird, die oftmals trocken ist und Organismen beherbergt, die nur gelegentlich befeuchtet werden müssen. Überall lagen Vogeldreck, Möwendaunen, kleine Stücke Abfall von der nahegelegenen Müllkippe, die zum Fressen angeschleppt worden waren. Ebbesiele füllten erodierte Stellen in den weicheren Gesteinsschichten des hoch aufragenden Felsens, und riesige grüne Seeanemonen umrandeten diese Schichten wie ungeheure Rachen, besetzt mit Hunderten lebenden, haftenden Zähnen. Kleine Krebse krochen vorsichtig zwischen ihnen hindurch, um Muscheln zu erbeuten. (Die Anemonen hatten sich zwar festgesetzt, waren aber nicht verwurzelt, sondern konnten langsam weiterziehen, genau wie die Kreiselschnecken mit ihren kleinen konischen Häuschen.) Ein vorzeitlicher Mollusk mit rotem Rücken war hier in der Sonne fehl am Platz.
Vince legte sein Board ab, um sich zu strecken, sah ständig zurück zum Kliff, entzückt über die Leere der Brandung und voller Angst, es könne jemand kommen. Er glaubte gesehen zu haben, dass sich auf dem Weg etwas bewegt hatte: «Eindringlinge?», fragte er.
Ich sah hinüber. «Nee.»
«Keine Eindringlinge?»
«Keine Eindringlinge.»
«Also nur wir beide, ohne Eindringlinge?»
Vince war bei seinen vielen guten Freunden für zwei Dinge berüchtigt. Zum einen für seine Gier nach Wellen. Rücksichtslos trat er gegen jeden um jede Welle an, wobei ihm alle Mittel recht waren, auch Aggressivität oder sogar schmutzige Tricks unter Freunden; du musstest ganz schön auf Zack sein, um deinen Teil abzubekommen. Und zum anderen hatte er die fast pathologische Neigung zu schwören, wo immer er gerade (ohne dich) gesurft hatte, war's perfekt gewesen. Auf jeden Fall besser als dort, wo du zur selben Zeit warst. Sogar wenn du nur eine Stunde nach ihm ankamst, musstest du dir mit Sicherheit anhören, dass diese Stunde die beste seit Jahren gewesen war. All dies bedeutete Vince mehr, als dass er nur seinen Spaß haben wollte; es war das Qualitätsbarometer seines Lebens. Wenn du mehr Wellen bekamst als er oder dir einen besseren Surfspot ausgesucht hattest, überkam ihn das Gefühl, dass ihm die wenige Macht entglitt, die er noch hatte. Immerhin hätte ich ein Leben lang gebraucht, um das zu lernen, was ich von Vince in einem einzigen Jahr lernte, nämlich sein erschöpfendes Wissen über das komplexe Zusammenspiel von Gezeiten, Winden und Dünungen für jeden einzelnen Riffbrocken und jede einzelne Sandbank in der Gegend, die Wellen produzierten, auf denen man reiten konnte. Doch bei all dieser grimmigen Inbrunst im Wasser war Vince ein wunderbarer Gefährte: sehr sarkastisch und ziemlich sensibel in Bezug auf die Gefühle und Meinungen anderer. Er wusste wann er jemandem auf die Füße trat, und oft schien ihm das Leid zu tun. Aber er hörte dennoch nicht damit auf – Surfen war der Teil seines Lebens, in dem er nie an Boden verlor.
Eine halbe Meile weiter nördlich hatte sich eine große Wellengruppe gebildet. Es gab insofern keinen Grund, jetzt schon ins Wasser zu springen, also sahen wir uns einfach ein bisschen um. An der dem Meer zugewandten
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