Surf
sich zu ziehen.
«Seht ihr, beim Surfen kommt die Wunde ins Spiel», fuhr Willie fort. Er bediente sich aus unserem dritten Körbchen Tortilla-Chips. «Das große Loch, stimmt's? Diese Leere im Innern der großen Wunde, na, sie muss halt ausgefüllt werden.»
«Hat dich Pascale damit indoktriniert?», fragte Vince und zog seine Brieftasche heraus.
«Nein, nein», beharrte Willie. «Weißt du, die Theorie besagt – und du musst dich damit befassen, Vinnie. Ich meine, eine Wunde? Du könntest letzten Endes den Opferstatus für dich in Anspruch nehmen! Hör zu, der Mann zieht aus diesem klaffenden Loch unerschöpfliche Energie für intime Obsessionen», er sah uns beiden in die Augen, «und das trifft wohl auf ein paar der Jungs, die wir kennen, zu: besessen von nicht-menschlichen Aktivitäten … von gedanklichen Systemen … und warte , Vinnie. Wechsel jetzt nicht das Thema, wir alle sehen, wie sich die Wellen auftürmen. Gib's einfach zu. Du bist ein ziemlich verwundeter, kaputter Typ, oder etwa nicht?»
Vinnie rieb sich die Augen.
«Und du, Dan?»
Ich nickte. Absolut verwundet.
«Darum kann die Frau », sagte Willie und stützte sich mit beiden Ellbogen auf den Tisch, «wahrscheinlich keinen Bezug zu deinem Bedürfnis haben, dein Ding ständig durchzuziehen. Sie hatte nie eine solche Wunde. Sie musste sich nie sagen, hey, mio isolato . Einfach nur: ‹Mama sieht aus wie ich, die Welt sieht aus wie ich.› Sie holen sich weiter all die Intimität von anderen Menschen. Insofern ist ihr Blick auf etwas anderes gerichtet als …»
«Surfen.»
«Surfen oder Physik oder Segeln oder was immer… Gott noch mal, das ist echt eine Wahnsinnswelle.»
Vince erhob sich von seinem Stuhl: «Können wir jetzt gehen?»
Tortilla-Chips aufgegessen, Rechnung bezahlt, Kekse und Kaffee beim nächsten Straßenstand besorgt, und ab geht's direkt zum Point, den schönen Lehmpfad hinunter mit all dem nassen Grün, reines Chi am Wegesrand: hochaufgeschossenes Fuchsschwanzgras, lila und weiß blühender wilder Rettich, kleine blaue Glockenblumen und wuchernde Senfpflanzen zwischen Brombeersträuchern. Eine Staude wies sechs perfekte, voll aufgegangene Mohnblüten auf, jede mit vier orangefarbenen Blütenblättern, die ein leuchtendes, wirbelndes Feuer aus orangen Staubgefäßen einfassten; alle zuoberst auf einem einzigen grünen Stängel mit kleinen violetten Scheiben direkt unter den Blüten – wahnsinnig zart und perfekt. Und das Beste von allem: Es ging keine Brise, sodass die Wasseroberfläche still dalag und der Nebel sich verdichtete. Windstille Wärme gibt es in jedem Frühling und Herbst nur ein paar Tage lang; insgesamt zehn solche Tage, vielleicht zwölf, im Jahr. Sie machen einem bewusst, wie geschäftig es sonst an der Küste zugeht: Der Himmel hetzt von einem Ort zum anderen, gierig saugt sie den Nebel ein oder holt einen Sturm von weit her, der dann genau hier losbricht… wie ausgedörrt sind ihre Pflanzen im Sommer, wie matschig und durchnässt mitten im Winter. Diese Tage waren die drei Prozent des Jahreszyklus, in denen die Küste einmal nicht im Begriff war, sich hastig zu verändern und einfach glücklich und lebendig blieb.
Und als wir uns dem Bahndamm näherten, sprang ein großer Luchs mit kurzem Schwanz und dicken Hinterbeinen aus dem Gebüsch, überquerte die Straße und blieb dann stehen. Er sah über die Schulter zurück zu uns mit seinem flachen Gesicht und den spitzen Ohren, so wie Katzen dies oft tun: Sie greifen nicht an, aber sie sind zum Sprung bereit. Er machte noch einen Schritt auf die Schienen zu und war verschwunden.
«Jungs, seht euch das an», murmelte Vince, als die Wellen in Sicht waren, «das Meer kriegt Gänsehaut.» Er fing an, seine Klamotten abzustreifen. «Seht-seht-seht-nur! Oh, die reinste …»
«Sag's nicht», bat Willie.
«Aber warum nicht?», jammerte Vince.
«Bitte.»
«Muschi?»
«Du blöder Hund!»
In voller Montur kletterten wir die Klippe entlang hinauf zur Plattform und standen da wie auf dem Bug des Kontinents, ein Bug, der sich seinen Weg durch die entgegenströmende See bahnte. Bei der absoluten Regelmäßigkeit der Wellenformen und Klarheit der Wellenlinie fühlte sich der Moment ziemlich genau so an, wie ich mir das in den Monaten erhofft hatte, in denen «die Dünung keinen Sinn ergab». Der Moment, wenn der Ort, dem du so viel Liebe entgegengebracht hast, wenn das Riff, das du so intim kennen gelernt hast, endlich die perfekte Sprache sprechen, von der du
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