Survive
suche erneut das Trittloch von Pauls Fuß. Herrgott Jesus, ich klettere. N icht nach unten schauen, sage ich mir. Schau nicht nach unten.
Er bewegt sich schnell und entschlossen die ersten zwanzig Meter hinauf. Auf halbem Weg nach oben bleibt er stehen, schaut zu mir herunter und reckt den Daumen hoch. Ich nicke auf nahezu unmerkliche Weise, rein instinktiv, schließlich ist jeder Energieaufwand Verschwendung, wenn die aufgewendete Energie nicht in diese Kletterpartie fließt.
Paul wendet sich wieder dem Berg zu und bewegt sich zwei bis drei Meter weit nach rechts, Hand über Hand, Fuß über Fuß, seitwärts statt in gerader Linie bergauf. Als ich die gleiche Stelle erreiche, sehe ich vor mir einen großen Block aus steinhartem Eis. Es ist gefrorenes Wasser, das vom Überhang darüber getropft ist. Ich schaudere eine Sekunde lang und frage mich beklommen, wie weit genau sich dieses Eis nach oben fortsetzt, und ob nicht der Überhang selbst vollkommen vereist sein könnte.
Pauls zur Seite ausweichende Schritte sind lang, und ich habe Schwierigkeiten, die Beine weit genug zu spreizen, um in seine Fußstapfen zu treten. Ich spüre, wie mein Herz unter meiner Jacke hämmert. Meine Ohren summen, während mir mein Blut durch die Adern schießt, und ich bilde mir ein, ganz genau zu fühlen, wie mein Herz all mein Blut durch meine Venen und Arterien pumpt. Irgendetwas an der Seitwärtsbewegung führt mich in Versuchung, nach unten zu schauen, und als ich ihr nachgebe, steigt eine Woge von Schwindelgefühl in mir auf, und die Welt dort unter mir wird seltsam in die Länge gezogen. Ich drehe den Kopf wieder zum Berg zurück, aber es ist zu spät. Ich muss würgen, Galle steigt mir in den Mund. Ich spucke in das Eis vor mir.
»Ich stecke fest«, schreie ich.
»Nein, tust du nicht.«
Mein Körper verweigert mir den Dienst. Ich kann mich nicht bewegen. Ich kann nicht denken. Ich weiß nur noch, dass ich noch nie ein anderes menschliches Wesen so vermöbeln wollte, wie ich jetzt Paul Hart verprügeln will.
»Ach, richtig, du bist ja ich! Weißt ganz genau, wie sich das im Moment hier für mich anfühlt.« Schon die Klettertour hat mich aus der Fassung gebracht, aber mein Zorn auf Paul lässt mich jetzt noch heftiger zittern.
»Nein, aber ich weiß, dass du es schaffen wirst«, ruft er. Der Ton seiner Stimme klingt aufrichtig und positiv. Er versucht, mir Mut zu machen.
»Ich kann nicht. Ich kann wirklich nicht«, rufe ich zurück. Ich will kein Opfer sein, aber ich stecke fest und habe Angst. Wieder schaue ich in die Tiefe. Wir müssen mindestens zwanzig Meter über dem Boden sein. Der Hang ist so steil, dass ich mich frage, wie wir überhaupt so weit gekommen sind.
»Ich werde das Seil zwischen uns fester spannen und dir ein wenig Hilfestellung geben. Bei drei musst du einen großen Schritt machen.«
»Ich kann nicht«, schreie ich.
»Eins … «
»Nein.«
»Zwei … «
»Ich kann nicht!«, brülle ich erneut und spüre, wie mein Gesicht rot aufglüht, als ich die Stimmbänder strapaziere.
»Drei.«
Das Seil zwischen uns ist plötzlich ganz straff, ich fühle, wie mein Gewicht angehoben wird, strecke den rechten Fuß aus und finde ein neues Trittloch, und wiederhole das Gleiche mit dem linken Fuß. Ich höre völlig auf zu denken, Fuß für Fuß gleite ich über den Berghang, bis ich Pauls neue Route erreicht habe.
Ich blicke zu Paul auf, der mich hinter seiner verchromten, verspiegelten Sonnenbrille beobachtet, ohne mich erkennen zu lassen, was in ihm vorgeht.
»Was war das denn eben?«, brüllt er zu mir herunter.
»Was?«
»Kannst du oder kannst du nicht?« Er lacht. Drecksack. Dieses Arschgesicht aus Cambridge. Ich richte meinen Blick auf den Berg und reagiere nicht. Meine Beine brennen, als würde Säure durch meine Schenkel gepumpt, meine Arme fühlen sich weich und wabbelig an, als seien sie aus Knete. Ich spüre, wie sich der Zweifel in meinem Gehirn breitmacht, also atme ich ein paarmal tief durch und konzentriere mich wieder. Jage die Zweifel zum Teufel, Jane. Sie haben nichts zu bieten und nehmen alles.
Wir steigen weiter nach oben, und als Paul den ersten Vorsprung unter dem Überhang erreicht, zieht er mich, während ich klettere, am Seil hoch, was das Klettern für mich sehr viel leichter macht. Als auch ich den kleinen Vorsprung erreicht habe, lege ich mich auf den Rücken und starre für einige Minuten in den Himmel hinauf. Meine Brust hebt und senkt sich heftig, und mein Herz rast.
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