Survive
oben führen. Hier ist dein Seil. Zieh es durch deine Gürtelschlaufe.«
Ich nehme das Seil, ziehe es durch die Schlaufe an meinem Rücken, dann binde ich einen Knoten.
»Das hält dich nicht, wenn du stürzt«, sagt er.
Ich sehe ihn an, und mein Blick sagt so viel wie: Dann sag mir halt, wie ich es machen soll, du Depp.
»Zieh das Seil vorne durch und führe es durch alle Schlaufen, wie einen Gürtel. Dann fädle es noch mal durch die letzte Schlaufe und mach ein paar Knoten. Das wird dich halten. Du bist sowieso federleicht, mehr braucht es da nicht.«
Nun, wenigstens das hat er bemerkt. Ich ziehe das Seil durch die Schlaufen, binde Knoten, dann nicke ich.
»Na los, auf geht’s«, sagt er und hebt die Hand, um mit mir abzuklatschen.
»Abklatschen?«, frage ich. »Ich werde sterben und du willst mit mir abklatschen?«
Er schaut für einen Augenblick belämmert drein, dann sagt er: »Entschuldige. Ich wollte dir nur Mut machen. Denk doch an gestern. Du warst unglaublich. Sei heute auch wieder unglaublich.«
Ich schaue ein letztes Mal den Berg hinauf, um mir meine Situation klarzumachen. Weil die Wand in diesem Bereich steil ist, hat sich dort weniger Schnee angesammelt. Das könnte sich in den nächsten Monaten ändern, aber ich beginne zu erkennen, wie klug Paul diese Stelle gewählt hat. Nach ungefähr dreißig Metern steilen Bergaufstapfens steht uns eine etwa fünf bis sieben Meter lange Kletterroute zu einem kleinen Felsvorsprung bevor.
Sobald wir es bis zum Vorsprung geschafft haben – das heißt, wenn ich die dreißig Meter den eisigen Berghang hinauf und die dann folgende kurze Kletterei über die Felswand überstehe – erwartet uns, wie ich von hier gut sehen kann, ein Überhang von etwa drei Metern, als hätte die Natur selbst ihn dort hingesetzt, um alle, die in dieses Tal eingedrungen sind, daran zu hindern, es je wieder zu verlassen. Sobald wir diese Hürde überwunden haben, sind wir aus der Talleiste heraus und oben auf dem Berg. Dort werden wir vielleicht – vielleicht – einfacher zu finden sein.
Paul reicht mir zwei dreißig Zentimeter lange und etwa zwei oder drei Zentimeter dicke Stöcke, die an einem Ende zu einer scharfen Spitze geschnitzt sind.
»Fürs erste Stück. Mach’s mir einfach nach. Pass auf.«
Er rammt seinen rechten Stock in den Schnee, der fest und vereist, aber nicht undurchdringlich ist. Seine Stiefel sind mit ihren scharfkantigen Stahlkappen besser als meine zum Klettern im Schnee geeignet, und auch mit ihnen tritt er fest in den Berg hinein. Dann jagt er seinen linken Stock etwa fünfzig Zentimeter weiter oben in den Untergrund. So beginnt er, den Berg hinaufzuklettern, ein Körperteil nach dem anderen, langsam, aber mit bemerkenswerter Präzision.
Er dreht sich um und sieht mich an.
»Komm schon. Steig in meine Fußstapfen, aber mach dir eigene Löcher mit den Stöcken. Du schaffst das.«
Alles ganz einfach. Du musst nur einem ausgebildeten Bergsoldaten jede Bewegung genau nachmachen. Ich beginne, die Richtigkeit dieser Entscheidung infrage zu stellen. Ich beginne, dieses ganze euphorische Hochgefühl infrage zu stellen, das mich seit dem Absturz erfasst hat, ein Adrenalinrausch, der mich immer wieder über die letzten achtundvierzig Stunden getragen hat.
»Komm schon, Jane. Ich kann nicht höher steigen, wenn du nicht nachkommst.«
Als Kind – bevor mein Vater starb – wurde ich mehrmals zu Geburtstagspartys in Indoor-Kletterhallen eingeladen, und ich fühlte mich immer zu Höhen hingezogen. Ich war ein geborenes Klettertalent und berauscht von dem, was ich für die todesmutigsten Klettertouren hielt. Mit alledem war es vorbei, als er starb. Ich hole tief Luft und versuche mich an einer Technik, die ich in der Klinik von einer Frau namens Dr. Morris gelernt habe. Sie sagte mit Vorliebe: »Stellen Sie sich die Person vor, die Sie gern sein würden.« Ich wandle ihre Worte ein wenig ab und versuche, mir mein jüngeres, wagemutigeres Ich vor Augen zu führen. Ich sehe meinem jüngeren Ich dabei zu, wie es einer Spinne gleich die Wand hinauftanzt, leicht und überall haftend, wo es erforderlich ist.
Ich stoße die linke Fußspitze in das erste von Paul getretene Loch, lehne mich gegen den Berg und ramme gleichzeitig meinen rechten Stock über mir in den Schnee. Der Hang wird nur allmählich steiler, er trägt meinen Körper, und die Stöcke, die Paul geschnitzt hat, geben mir Gleichgewicht und festen Halt. Ich ziehe den rechten Stiefel aus dem Schnee und
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