Survive
Größtenteils vor Anstrengung, aber mich erfüllt auch ein gewisser Stolz.
»Nicht schlecht«, lobt Paul. »Gar nicht schlecht, wirklich.«
Er blickt die Wand hinab, die wir gerade erklommen haben, und dann zum nächsten Aufstieg empor. Ich richte mich auf, rutsche dann an den Rand und lasse die Beine hinunterbaumeln.
»Wow. Danke«, erwidere ich und versuche, unseren Ärger aufeinander irgendwie zu überspielen.
»Dank dir selbst.« Er streicht mir spielerisch über die Mütze und dreht sich dann zur Felswand um. Er schaut hinauf, und ich folge seinem Blick. Unser einziger Weg führt direkt nach oben.
Kapitel 22
Wenn es eine steile Wand wäre, für die man einen Kletterhammer und diese großen Nägel benötigt, wie sie die Bergsteiger verwenden, säßen wir für immer auf diesem Felsvorsprung fest. Aber als ich die Felsplatte vor uns genauer betrachte, sehe ich, dass sie nicht glatt ist, sondern voller Risse, Falten und Stoppeln, wie das Gesicht eines alten Mannes.
Paul legt seine Hände auf den Fels und massiert den Stein. Er blickt hinauf und nach links, dann nach rechts, versucht, die genaue Aufstiegsroute vorauszubestimmen, die Folgen jeder möglichen Wegwahl zu durchdenken. Zum ersten Mal seit einer ganzen Weile schaue ich in den Himmel und sehe, dass das trübe Leuchten der Sonne hinter den Wolken jetzt direkt über uns ist. Der Felsüberhang, an den ich gar nicht zu denken wage, ist ebenfalls direkt über uns und wird es wohl für den Rest des Tages bleiben. Wenn jetzt ein Sturm aufkäme, gäbe es weder nach unten noch nach oben einen Fluchtweg. Wir würden mit Sicherheit hier oben sterben.
Paul schiebt die Spitze seines rechten Stiefels in eine Felsspalte und streckt dann die linke Hand nach oben. Mit einer katzenähnlichen Bewegung springt und zieht er sich hoch. Zack, zack, zack, kriecht er den Fels hinauf. Blitzschnell hat er die Hälfte der Wand erklommen, mir kommt es vor, als seien nur einige Sekunden vergangen. Er schaut zu mir herunter, streckt seine flache Hand aus und bedeutet mir, dass ich bleiben soll, wo ich bin.
Ich beobachte ihn ehrfurchtsvoll. Er studiert den Fels wie eine Karte. Es sind vielleicht noch drei Meter bis zum nächsten Sims, aber es könnte genauso gut ein Kilometer sein. Er stößt den rechten Stiefel in einen Riss im Fels und greift dann geschmeidig nach oben und packt mit der linken Hand eine Ausbuchtung im Stein. Vorsichtig stellt er den linken Stiefel auf ein kleines grasbewachsenes Stück Fels, und dann hebt er den rechten Stiefel und drückt die Sohle gegen die glatte Steinwand, wobei sein Schwung ihn für einen Moment dort festhält. Er springt flink wie ein Affe auf und packt die Felskante über ihm. Er nimmt schnell die rechte Hand nach oben und hängt an beiden Armen vom Sims herab.
Für einen Moment presse ich alle Luft aus meinen Lungen. Er baumelt mindestens dreißig Meter über dem Erdboden, über dem sicheren Tod, wenn er abstürzt.
Wenn er abstürzt, denke ich völlig selbstsüchtig, bin ich hier oben verloren. Ich begreife, vielleicht zum ersten Mal in meinem Leben, dass mein Überleben aufs Engste mit dem Überleben eines anderen Menschen verbunden ist. Ohne ihn werde ich sterben. Mit ihm besteht Hoffnung. Ich kann mir nicht vorstellen, dass er dasselbe über mich denkt, aber andererseits wäre er ohne mich in einem Flugzeugsitz an einer Felswand erfroren.
Er zieht sich hoch, ächzt – und schreit dann – vor Anstrengung. Er rollt über die Felskante und verschwindet aus meinem Blickfeld. Einige Sekunden später spähen seine verspiegelten käferartigen Sonnenbrillengläser zu mir herunter, und er ruft: »In Ordnung. Denk bloß nicht darüber nach. Handle einfach nach Gefühl.«
»Das ist aber nicht mein Ding. Man nennt mich auch Miss Ober-Planerin und ich bin Weltmeisterin im Besser-noch-mal-drüber-schlafen«, schreie ich hinauf. Ein kleiner Scherz in einem schwierigen Augenblick ist gar nicht so verkehrt, stelle ich überrascht fest.
Er reckt den Daumen hoch und grinst. »Sieh mal einer an, wer jetzt plötzlich vor lauter Panik die Witze reißt.«
Dann ruft er mir zu: »Ich werde dich hochziehen. Klettere einfach nur immer weiter, selbst wenn du ausrutschst.«
Es ist erheblich einfacher, sich von seinem Gefühl leiten zu lassen, wenn man weiß, dass es nicht schlimm ist, wenn man es vermasselt. Klettere einfach nur immer weiter, Jane. Das ist der Schlüssel.
Ich wende mich der Wand zu und drücke die Spitze meines Stiefels an der gleichen
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