Survive
Anfang. Es tut mir leid.«
»Klar. Und beim Rauchen richtig inhaliert hast du natürlich auch nie«, erwidert er mit einem Feixen. »Warum lügst du so viel? Warum bloß musst du etwas so Persönliches lesen, ohne vorher zu fragen?«
»Ich habe einfach nicht nachgedacht. Das war schon, bevor ich dich kennengelernt habe. Ich meine, bevor ich dich so kennengelernt habe, wie ich dich jetzt kenne.«
»Vergiss es, Solis. Lass uns gehen.«
Kapitel 27
Der Marsch Richtung Tal gestaltet sich schwierig. Zudem verläuft er größtenteils schweigend. Was immer gestern Abend zwischen uns gewesen ist, hat sich in Luft aufgelöst, und der sture Macho Paul ist wieder aufgetaucht, nur dass diesmal auch noch Zorn in seiner Stimme mitschwingt. Ich habe seinen Brief gelesen, und jetzt ist ihm meine bloße Anwesenheit auf diesem Berg zuwider.
»Nicht zurückfallen«, ruft er alle paar Minuten schroff.
Zur Strafe hat er absichtlich ein ziemlich schnelles Tempo eingelegt. Außerdem sind meine Glieder noch ganz steif von gestern. Ich höre nichts unbeschwert Neckendes mehr – nicht einmal Mitgefühl – aus seiner Stimme heraus. Gestern an der Felswand hatte seine Stimme, selbst wenn er brutal hart zu mir war, immer einen freundlichen Unterton, oder zumindest habe ich das so empfunden. Aber jetzt spüre ich etwas ganz anderes von ihm ausgehen: einen brodelnden, selbstgerechten Zorn. Er hasst mich. Das Lesen des Briefes scheint ein unverzeihliches Vergehen gewesen zu sein. Und ich gebe ihm recht.
Der einzige Vorteil von alldem besteht darin, dass meine Gedanken nun derart von Paul und seiner Stimmung eingenommen sind, dass ich den nagenden Hunger, die Blasen an meinen Füßen und die Schwäche in meinen Beinen kaum mehr wahrnehme.
»Schau mal dort«, sage ich.
Paul bleibt stehen. Er dreht sich zu mir um.
»Was denn?«
»Da, auf dem Baum. Jemand hat mit einem Messer ein Dreieck in den Baum geritzt. Das ist ein Zeichen, nicht wahr?«
Er dreht sich schnell um und starrt einen Moment den Baum und das Dreieck an. Obwohl er sich alle Mühe gibt, es zu verbergen, breitet sich ein Grinsen in seinem Gesicht aus.
»Leck mich am Arsch«, ruft Paul. »Wir haben einen Wanderweg gefunden!«
Er dreht sich um, will mich umarmen, aber dann hält er mitten in der Bewegung inne und erinnert sich an seine Wut auf mich.
Seine Hände fallen schlaff herab, und sein Lächeln verschwindet.
»Es könnte etwas bedeuten. Vielleicht bedeutet es aber auch gar nichts.«
Ich nicke. Er hat recht, und in jedem Fall vermag selbst dieser große Glücksfund sein Herz nicht wieder für mich zu erwärmen. Ich fühle ein Schluchzen in meiner Kehle aufsteigen, aber ich werde ihm nicht zeigen, wie sehr er mich verletzt. Meine Lippen formen nur ein Wort: »Stimmt.«
»Wir folgen dem Weg ein Stück«, schlägt er vor. »Aber wenn wir die Felsbrücke überqueren wollen, führt er in die falsche Richtung. Vielleicht ist dieser Weg einfacher zu bewältigen, doch er wird uns hinunter zur Talsohle führen. Und das ist ein Todesmarsch. Dann schaffen wir es nie wieder herauf.«
Ich gewinne meine Fassung wieder und hole tief Luft. Ich tue so, als betrachte ich zusammen mit ihm die Landschaft, aber tatsächlich bemühe ich mich einfach nur, die in mir wogenden Gefühle unter Kontrolle zu bekommen. Ich komme von meinen Medikamenten runter, rufe ich mir ins Gedächtnis . Ich bin im Moment womöglich übersensibel und schreibe ihm Gedanken und Gefühle zu, die ausschließlich das Produkt meiner eigenen Angst sind. Und dann höre ich Old Doctor: Bring die Stimmen zum Schweigen, Jane. Hör auf, alles kritisch zu hinterfragen. Nimm in Angriff, was vor dir liegt, und konzentriere dich auf deine wirkliche Stimme.
»Ich denke, es gibt einen Grund dafür, warum Menschen hier eine Markierung angebracht haben«, sage ich. »Und ich denke, es gibt auch einen Grund dafür, dass wir sie jetzt entdecken.«
»Also hat Gott sie uns geschickt?« Paul lächelt herablassend. » So wie er uns im Flugzeug geholfen hat?«
»Wir sind immer noch hier, oder etwa nicht?«
»Und welchem Umstand haben wir das zu verdanken – unseren zufällig zugewiesenen Sitzplätzen? Ich jedenfalls habe mit Sicherheit nicht gebetet. In dem Fall dürftest also nur du hier sein«, fährt Paul fort. Ich kann es nicht ausstehen, wenn er recht hat und seine Argumente überzeugend sind.
»Keiner kann das wissen, Paul.«
»Ich weiß zumindest Folgendes«, sagt Paul mit einem leisen, wütenden Knurren, als lasse er
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