Survive
letzte Jahrzehnt ihres Lebens in einem Haus für verrückte Frauen in Vermont verbracht. Mein Dad hat es mir nie erzählt, aber von meiner Mum habe ich nach seinem Tod erfahren, dass seine Mutter sich in diesem Heim umgebracht hat – sie hat sich erhängt. Verrücktsein ist bei uns ein Familienhobby.« Bei diesen Worten lache ich ein wenig.
»Nun«, antwortet er und schiebt seine Finger in meine. »Scheint ganz so, als hätten wir irgendwie beide einen ziemlich ähnlichen Scheiß durchmachen müssen.«
»Ja, sieht so aus«, antworte ich.
Er beugt sich vor und küsst mich auf die Stirn. »Es tut mir leid. Es tut mir wirklich leid.«
»Danke«, wispere ich. Ich spüre, wie eine Flut von Gefühlen in mir aufsteigt und sich in meiner Kehle und meiner Brust breitmacht.
»Es war Anfang September, und ich stand in der Küche und machte das Mittagessen. Ich hatte angefangen, ein paar Tomaten zu schneiden. Die Art, wie das Messer durch die Haut der Tomaten fuhr, faszinierte mich. Im nächsten Moment stand alles in kristallklarer Deutlichkeit vor mir, und ich beschloss, meine Finger aufzuschneiden und dann meine Handfläche. Der erste Schnitt erfüllte mich mit wahrer Euphorie. Dann strömte das Blut aus mir heraus, und es war wie eine Erleichterung, als meine ganze Angst aus meinen Adern geschossen kam. Überall war Blut, doch es war mir egal, und dann habe ich den Schnitt gemacht, den du gerade mit den Fingern ertastet hast. Es hätte mich umbringen können, aber meine Mutter kam herein und hat dem ein Ende bereitet.«
»Hast du es wirklich ernsthaft versucht?«
»Das ist die große Frage, nicht wahr?«
»Ich schätze ja.«
»Ich kann mich nicht erinnern.«
»Erzähl keinen Quatsch.«
Ich schweige für eine Weile.
»Das ist hart, Paul Hart«, sage ich. »Ziemlich grob, so etwas zu jemandem zu sagen.«
»Wärst du nicht glücklicher, wenn du es zugegeben und dann die Sache hinter dir gelassen hättest? Ob es dir ernst war oder nicht, spielt doch überhaupt keine Rolle.«
Ich will wütend und zornig sein, aber ich kann die unangenehme Wahrheit, dass er recht hat, nicht ignorieren.
»Neulich abends im Flugzeug«, fragt er, »wolltest du dich da auch schneiden?«
Ich schüttele den Kopf. »Nein. Pillen. Ein Mix von Präparaten, den ich recherchiert und zusammengestellt habe. Die meisten sind beim Absturz auf den Boden gefallen, bevor ich sie schlucken konnte.«
Ich verstumme. Ich bin außerstande zu sprechen, während mir schlagartig die Ungeheuerlichkeit dessen klar wird, was geschehen ist – was hätte geschehen können.
Dann berührt Paul sachte mit den Fingerspitzen meinen Hals und zieht mich sanft an sich. Er küsst mich. Seine Lippen fühlen sich feucht an. Ich öffne meinen Mund ganz leicht, und unsere Lippen gleiten ohne Zögern ineinander. Dann zieht er seinen Kopf urplötzlich zurück, und wir sehen einander in die Augen. In diesem Moment weiß ich, dass er in mein Herz geblickt hat. Er küsst mich wieder. Ich kann nicht sprechen. Ich kann kaum denken. Mein Körper kribbelt vor Hoffnung und Lust und Liebe und Verlangen.
Wir küssen uns wieder und wieder, dann beißt er mir sanft ins Ohr. Ich will explodieren, den Schlafsack zerplatzen lassen. Ich drehe mich zu ihm um, ohne auf den Schmerz zu achten, der bei jeder Bewegung durch meinen Rücken schießt, und unsere Beine verheddern sich ineinander. Er küsst mich auf den Mund, und ich höre, wie es in meinem Kopf rauscht. Mein linker Arm gleitet unter sein Hemd, reibt seinen Hüftknochen und seinen Bauch. Paul stöhnt leise. Und dann holen mich ganz plötzlich wieder die Strapazen des Tages ein. Ich kuschle mich enger an ihn und drücke seine Hände und Arme an meinen Körper. Er küsst noch einige Male meinen Hals, dann schlafen wir ein.
Kapitel 25
Ich träume. Ich bin in der Klinik, und Old Doctor blickt mich starr an, aber als er redet, höre ich die Stimme meiner Mutter. Er stellt mir wieder und wieder dieselbe Frage, als würde er mich nicht hören. Schließlich schreie ich.
»Sie können mir nichts vormachen! Sie können mir nichts vormachen!«
Old Doctor steht auf und geht ans Fenster. Er schaut für einen Moment in den Garten hinaus, dann dreht er sich wieder zu mir um und winkt mich heran. Ich gehe zu ihm, und sofort fängt es an zu schneien, und ich lächle.
»Weshalb lächelst du, Jane?«, fragt er.
»Der Schnee – er ist schön.«
Er schaut nach draußen und sagt dann: »Welcher Schnee? Da ist kein Schnee, Jane. Das weißt du
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