Survive
auf Weiß. Und schließlich, wenn du müde oder abgelenkt oder beides bist, wird der Boden zu einer einzigen glatten, ebenen Fläche.
»Paul!«, brülle ich. Meine Stimme hallt übers Tal. Er liegt wie ein toter Hirsch neben einigen Gesteinsbrocken. Sein Blut leuchtet im Schnee. Ich schaue auf seine Lippen, Hände und Stiefel hinab, aber nichts regt sich.
»Paul!«, schreie ich noch einmal. Das leise, einsame Echo hallt wieder zu mir zurück.
Ich sehe mir den Abhang rechts und links von mir an und finde gute zwei Meter zu meiner Rechten einen steilen, aber zu bewältigenden Abstieg hinunter zu der Stelle, wo Paul liegt. Die Ironie des Ganzen – dass wir den Flugzeugabsturz überlebt haben, die Beinahe-Abstürze beim Erklettern der Steilwand am Vortag, nur um jetzt wegen eines einzigen Fehltritts zu scheitern – trifft mich wie ein Schlag. Ein falscher Schritt hat gereicht, um Paul acht Meter in die Tiefe auf ein Geröllbett abstürzen zu lassen. Das Leben ist ohne Sinn und Verstand, trotz meiner inständigen Hoffnung, doch einmal eine tiefere Bedeutung darin finden zu können. Warum hat sich seine Jacke nicht wie meine im Dornengestrüpp verfangen? Hat er sorgfältig darauf geachtet, die Dornen zu meiden, und liegt nun gerade deswegen tot da unten? Warum bin nicht ich gestorben?
Ich klettere hinunter, so schnell ich kann, und in wenigen Minuten bin ich bei Paul.
Ich ziehe meine Handschuhe aus und berühre sein Gesicht. Warm. Ich taste seinen Hals nach einem Puls ab und lege dann den Zeigefinger unter seine Nase. Heißer Atem strömt über meine Finger. Ich beuge mich hinunter und küsse seinen Kopf.
»Paul«, sage ich und schlage ihm sanft auf die Wange.
Er regt sich, aber seine Augen sind glasig und trüb, starren irgendwie ins Leere.
»Paul!«, rufe ich. »Kannst du mich hören?«
Sein Blick wird etwas klarer, und ich streichle ihm übers Haar.
»Was ist passiert?« Seine Frage ist mehr eine Art Krächzen.
»Du bist gestürzt.«
Ich knie mich vor ihn hin und betrachte seinen Körper. Sein rechter Arm ist nach hinten umgeknickt. Beim Anblick der unnatürlichen Verrenkung krampft sich mein Magen zusammen. Ich muss mir den Mund zuhalten. Es ist nichts in meinem Magen, aber meine Muskeln ziehen sich zusammen, um ein paar Tropfen Galle hochzuwürgen.
»Kannst du den Arm fixieren?«, fragt er gelassen. »Du kriegst das bestimmt hin, ich zeig’s dir.«
Ich bin mir nicht sicher, was ich tun soll, aber ich nicke entschlossen. »Klar.«
»Such zwei gerade Äste, sie müssen ganz gerade sein. Nein, nimm vier. Und gib mir all deine Schlaftabletten oder was immer du da einwerfen wolltest. Die für deinen Selbstmord vorgesehen waren.«
Ich zögere einen Moment, dann greife ich in meine Taschen und bringe zum Vorschein, was noch übrig ist. Es ist ein ansehnliches Häufchen: Genug, um jemanden für längere Zeit bewusstlos zu machen. Nicht genug, um ihn umzubringen, aber wahrscheinlich genug, um hinter uns zu bringen, was immer er und ich jetzt durchzustehen haben.
Ich reiche ihm die Pillen und ziehe die eine Flasche mit schmelzendem Schnee unter meiner Jacke hervor. Er öffnet den Mund. Ich lege etliche Tabletten auf seine Zunge und helfe ihm dann mit dem Wasser. Dabei wird eine ganze Menge verschüttet, was mir in der Seele wehtut, ich beachte es jedoch nicht weiter. Langsam schluckt er die Pillen. Er lässt sich zurückfallen und stöhnt vor Schmerz. Mir wird klar, dass das mein Signal ist, mich auf die Suche nach den Ästen zu machen.
Ich schaue mich um und stelle fest, dass Pauls Sturz uns an den Fuß der Felsbrücke gebracht hat, die die beiden Berge miteinander verbindet. Wenn Paul die Sache durchsteht, befinden wir uns kurz vorm Ziel zur Rettung. Wir müssen überleben, sage ich mir.
Der Wald ist dicht, aber nicht undurchdringlich. Äste von einem lebenden Baum abzubrechen erweist sich als schwierig. Einige der Äste sind zu dick und leisten zu viel Widerstand, und diejenigen, die sich leicht abbrechen lassen, sind einfach zu dünn, um als Schienen zu dienen.
Ich gehe tiefer in den Wald hinein und halte nach umgestürzten Bäumen oder am Boden liegenden Ästen Ausschau. Nach etwa fünfzehn Metern blicke ich zurück, und mir wird bewusst, dass ich jetzt weiter von Paul entfernt bin, als ich es seit dem Aufstieg war. Das Gestrüpp verdeckt meine Stiefelabdrücke. Ich überlege mir, nach ihm zu rufen, aber dann muss ich einsehen, dass ich hier nun auf mich allein gestellt bin. Das hier ist meine
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