Survive
nehme die Wasserflaschen und träufle die letzten ein, zwei Tropfen auf meine Zunge. Dann fülle ich die Flaschen mit Schnee, schiebe eine tief in meine Jacke und lasse sie mir in den Rücken rutschen. Verdammt, ist das kalt. Ich rolle unseren Schlafsack zusammen und krieche hinaus in den Wald.
Paul steht einige Schritte von der Höhle entfernt und schaut zu den Bergen hinüber.
»Weißt du, wo wir sind?«
»Ich bin mir nicht sicher. Aber ich glaube, wenn wir auf diesen Gipfel dort hinaufklettern können, sind wir auf dem höchsten im Umkreis. Dann können wir die Gegend unter uns überblicken, und hoffentlich wird man uns dann auch sehen können.«
»Ist es denn möglich, dort hochzukommen?«
Er zuckt die Achseln, als wolle er sagen, dass er es nicht hundertprozentig wisse.
»Alles ist möglich«, antwortet er schließlich. »Du musst es nur zuerst hinkriegen, auch daran zu glauben.«
Kapitel 26
Ich lasse meinen Blick über den Gebirgszug vor uns schweifen. Ich sehe, wo wir hingehen müssen, aber ich sehe nicht, wie wir dort hingelangen sollen.
»Sieh mal dort drüben.« Paul streckt die Hand aus.
Ich schaue in die angezeigte Richtung. Ich erkenne einen dichten Wald, einige Hügel und dann eine tiefe Schlucht, die unseren Gipfel von den höheren Gipfeln trennt.
»Ich kann nicht sehen, was du meinst«, sage ich.
Er nimmt meinen Arm und zeigt damit auf einen Fleck am Horizont. »Dort«, sagt er und lenkt meine Hand mit seiner.
Ich begreife, dass er nach unten zeigt. Hinunter in das nächste Tal, dann nach oben.
»Bis ganz da runter?«, frage ich.
»Nein, sieh mal dort«, meint er. »Es gibt eine Art natürliche Brücke zwischen den beiden Gipfeln. Es könnte gefährlich werden, aber glaube mir, es ist das Beste, was wir tun können.«
»Wie weit ist es denn?«
»Keine Ahnung. Wir dürften wohl einen Tag oder so für den Weg dahin brauchen.«
Ich weiß nicht, ob er es wirklich ernst meint. Ich versuche, mir vorzustellen, ob und wie wir eines Tages gefunden werden. Vielleicht wird man in zwanzig Jahren die Trümmer ausfindig machen und unsere gefrorenen Leichen unter drei Metern Schnee bergen. Aber eigentlich ist das unwahrscheinlich, weil die Bären uns niemals so lange liegen lassen werden, sobald sie im Frühling aufgewacht sind. Wenn der Schnee schmilzt, sind wir wohlschmeckende Leckerbissen für sie.
»Also hinunter und dann drüben wieder hoch«, sage ich.
»Ja«, antwortet er. »Der Vorteil bei der Sache ist: Wir müssen keine Felswände hinaufklettern.«
»Und dann das Wetter, dafür können wir wirklich dankbar sein.«
»Das ist die richtige Einstellung, Solis. Ja, die Temperaturen liegen heute fast bei milden null Grad.«
Man kann es von da, wo wir stehen, nicht sehen, aber irgendwo in der Ferne hinter den Bergen muss die Sonne hell scheinen. Wir befinden uns immer noch unter einem dichten Dach hoher Bäume, aber die Luft ist wärmer geworden. Neue Hoffnung keimt in mir auf.
»Ich nehme an, wir werden einen Tag brauchen, um hinunterzusteigen, und noch einen, um wieder hinaufzuklettern. Sobald wir dort sind, werden wir versuchen, ein Feuer zu machen, wenn das Wetter hält.«
»Und was werden wir essen?«, frage ich.
Er sieht mich seltsam an, dann erwidert er: »Ich mache mir mehr Sorgen, worüber wir reden werden. Wir können tagelang ohne Essen überleben. Außerdem haben wir immer noch einige Süßigkeiten. Und wir haben Wasser. Aber nach unserem Gespräch gestern Abend habe ich die Befürchtung, dass es nichts mehr zu beichten gibt.«
»Echt, das befürchtest du? Dass uns die Lebensbeichten ausgehen?«
»Leider ja.«
Er sieht sich nach unseren Sachen um, fängt an, seine Jacke abzuklopfen und seine Hosentaschen zu durchsuchen.
»Wonach suchst du?«
Er sieht in seine Tasche und nimmt auch meine Sachen in Augenschein.
Er versetzt mich allmählich in Panik, also frage ich wieder: »Was fehlt denn?«
»Mein Buch«, sagt er schließlich.
»Dein Buch ist hier drin«, antworte ich und zeige auf den Schlafsack auf seinem Rücken.
Es entsteht eine lange Pause zwischen uns. Er sieht mich an und liest meine Körpersprache. Ich bin von Kopf bis Fuß mit Jacken, Handschuhen, Sonnenbrille und Mütze bedeckt, daher kann ich mir nicht vorstellen, dass man da noch allzu viel herauslesen kann.
»Hast du den Brief gelesen?«, blafft er mich an.
»Nein«, streite ich ab. Ein reiner Reflex, aber ich bedaure es sofort, gelogen zu haben.
»Wirklich nicht?«, fragt er skeptisch.
»Nur den
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