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Survive

Survive

Titel: Survive Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alex Morel
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geebnete Bahn schließt sich sogleich wieder. Ich kann nur einen knappen Meter weit sehen, und mir wird klar, dass ich nun auf mich allein gestellt bin. Anders als gestern, bei meinem ersten Vorstoß die Felswand hinauf, verspüre ich keine besondere Furcht. Ich habe schon Schlimmeres erlebt und kann die Dornen und Zweige dieses Waldes ertragen.
    Einmal höre ich ein Rascheln unter mir, und ich sehe ein kleines Kaninchen, das sich unter dem Zweig verfangen hat, auf den mein Stiefel gerade getreten ist. Der Druck reicht aus, um das weiße Kaninchen an der Stelle im Schnee festzuhalten, wo es sich zuvor versteckt haben muss. Seine rötlichen Augen funkeln mich an. Ich erkenne die panische Angst in ihnen, aber gleichzeitig sehe ich etwas Essbares.
    Ich greife in die Taschen meiner Jacke und ziehe einen der Kletterstöcke heraus, die Paul gestern für mich geschnitzt hat. Ich fühle, wie das Kaninchen nur noch mehr zappelt. Es muss meine Gedanken spüren, denke ich. Es muss wissen, dass ich es töten und essen will. Bei dem Gedanken läuft mir vor Hunger das Wasser im Mund zusammen. Ich presse meinen Stiefel, so fest ich kann, auf den Ast, und ich höre ein kurzes Quieken.
    Ich hole mit dem Stock aus, ramme ihn dem Kaninchen in den Hals, und Blut spritzt auf den Schnee. Das Tier zuckt noch mehrmals und bleibt dann reglos liegen. Ich greife in meine Taschen und ziehe einen der Plastikbeutel heraus, die wir mitgenommen haben, um unsere Sachen trocken zu halten. Ich hebe das Kaninchen auf und stecke es in den Beutel. Ich betrachte das Blut an meinen Händen und erinnere mich an den Tag, an dem mein eigenes Blut mein e Hände und Arme bedeckt hat. Ich wollte mich wirklich umbringen, denke ich. Ich habe die Antwort auf Old Doctors Frage die ganze Zeit über gewusst: Mein erster Versuch, Selbstmord zu begehen, war nicht nur ein Probelauf. Er war ein großer Schritt auf der Leiter zum Ziel. Eine dunkle Saat ist an jenem Heiligabend vor langer Zeit gepfla nzt worden; und mit jedem Tagtraum, jedem grüblerischen Gedanken und schließlich mit meinen Probeläufen bin ich auf dieser Leiter weiter emporgeklettert und dem Ziel Selbstmord näher gekommen. Hätte ich nicht davon geträumt, es meinem Vater nachzutun, oder hätte ich mir an jenem ersten Tag nicht all diese kleinen Schnitte zugefügt, wäre ich auch nicht mit einer Handvoll Tabletten in dieses Flugzeug gestiegen.
    Doch das Gegenteil trifft wohl ebenfalls zu: Hätte ich diesen ersten Schritt nicht gemacht, wäre ich nicht die, die ich jetzt bin: eine Kämpferin. Ich gebe mir selbst ein kleines Versprechen: Falls ich jemals hier rauskomme, werde ich Old Doctor genau das erzählen. »Aber warum ist das so? Das genau ist die Frage«, würde er antworten.
    Ein grauenvoller Schrei, gefolgt vom Geräusch eines schweren Aufpralls, reißt mich aus meinen Gedanken. Das Adrenalin rast durch meinen Körper, und ich renne, so schnell ich kann, durchs Gebüsch. Ein Dorn ritzt mir die Haut auf. Ich spüre Blut über meine Wange laufen, und ich lecke es instinktiv ab. Es ist salzig und schmeckt nach Eisen.
    Ich lausche auf Geräusche von Paul, höre aber keine weiteren Schreie oder Bewegungen, während ich mich durch das dichte Buschwerk kämpfe. Ein Dornbusch mitten auf meinem Weg greift nach meiner Jacke und zerrt mich zurück. Der Stoff reißt, und ich bleibe stehen und löse mich nach und nach aus den Fängen des Busches. Die Dornen haben sich tief in meine Windjacke gegraben. Als ich sie herausziehe, flattern Daunen und Füllmaterial hinterher. Es dauert über eine Minute, mich zu befreien.
    Sobald ich es geschafft habe, trete ich rückwärts aus dem Busch und bewege mich langsam außen herum, darauf bedacht, meine Jacke nicht weiter aufzuschlitzen. Ich zwänge mich durch ein Gebüsch kleiner Fichten, und in dem Moment entdecke ich, was Paul nicht gesehen hat: einen verborgenen Abgrund von vielleicht acht bis zehn Meter Tiefe. Die schroffen Kanten in der Schneedecke unten lassen erkennen, dass sich am Fuß der Schlucht Felsen und Gestein befindet. Meine Knie geben nach, und ich muss mich an einem Baum festhalten, um nicht hinzufallen.
    Paul liegt unten am Boden, und sein Körper ist auf eine unnatürliche Weise verdreht. Er muss zu schnell durch die Büsche geschritten sein und den dahinter versteckten Abgrund übersehen haben. Der Schnee kann das Auge leicht täuschen und auf diese Weise solche Senken und Abgründe scheinbar einebnen. Alles ist erfüllt von dem immer gleichen Weiß

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