Survive
den aufgestauten Zorn eines Jahrzehnts auf die Welt los, richtet ihn aber nur gegen mich, weil ich ihm gerade am nächsten bin. »Gott ist nicht hier. Und er war nicht in diesem Flugzeug. Und er war nicht da, als meine Mum oder Will starben oder als dein Dad sich das Hirn weggepustet hat. Er war nicht für Margaret da oder für den Piloten oder für sonst wen. Und selbst wenn er jetzt hier bei uns wäre, was macht uns beide so außergewöhnlich? Wir sind eine Lebensmüde und ein Atheist, ist es nicht so? Warum ausgerechnet uns retten? Ich sag dir nun die einzige Wahrheit, derer ich mir im Moment sicher sein kann: Das ist eine kalte, eisige Gegend hier auf dem Gipfel dieses Berges. Stürzt du ab, stirbst du. Isst du Schnee, stirbst du. Wirst du nicht gefunden, stirbst du. Das sind die Tatsachen, und Gott wird nicht vom Himmel herabkommen und das ändern. Und nur weil sich da ein Dreieck auf einem Baum befindet, hineingeschnitzt von wer weiß wem und wer weiß wann, bedeutet das nicht, dass es uns hier heraushelfen wird. Tatsächlich könnte es uns da unten in unseren sicheren Tod führen oder den gleichen Weg zurück, den wir gerade gekommen sind. Manchmal sind Zeichen einfach nur Zeichen. Manchmal führen sie dich in die falsche Richtung.«
Zwischen uns legt sich eine scheinbar endlose Stille. Ich hasse ihn dafür, dass er jenem tief verwurzelten Zweifel über die Welt Ausdruck verleiht, der mich seit dem Tag erfüllt hat, an dem mein Vater sich umgebracht hat. Gnadenlos. Kalt. Brutal. Gegen Zweifel gibt es kein Gegenmittel, außer vielleicht an Tagen, an denen man eine Bergwand hinaufklettert.
»Ich kapier schon, Paul. Mein Vater ist tot, und dein Bruder ist tot, und nichts wird das ändern.« Ich stehe direkt vor ihm. Ich weiß nicht, woher diese Worte gekommen sind, aber da sind sie, machen sich zwischen uns beiden breit, ein Wirbel von Worten statt von Schnee. Und dann füge ich hinzu: »Ich liege in vielen Dingen falsch und bin weiß Gott kein Musterbeispiel für geistige Gesundheit, aber ein paar Dinge weiß ich doch. Schmerz ist nicht gut, aber er ist auch nicht schlecht. Ihn zu verbergen, ihn zu nähren – das ist schlecht. Genau das habe ich jahrelang getan. Es vergiftet einen, hat mich von innen heraus verfaulen lassen. Und auch dich lässt es faulen. Du kannst dich nicht vor deinem Vater verstecken und dafür den Tod deines Bruders und deiner Mutter als Ausrede benutzen.«
Zorn lodert für einen Moment in seinen Augen auf, und für eine kurze Sekunde habe ich Angst vor ihm. Ich bin zu weit gegangen. Aber es liegt eine reine Wahrheit in meinen Worten. Ich kann sie nicht leugnen.
»Nur weil du den Brief meines Bruders gestohlen und gelesen hast, bedeutet noch nicht, dass ich mit dir über all den verfluchten Scheiß reden will.«
»Hast du dich mal gefragt, warum du dieses verfluchte Scheißbuch immer wieder in meiner Nähe herumliegen gelassen hast?«
»Oha, sind das die Tricks, die du von deinem Psychofritzen gelernt hast?« Er spuckt die Worte praktisch aus.
Die Grenze zwischen uns scheint unüberwindbar. Er wendet sich ab und betrachtet wieder das geschnitzte Zeichen. Sein Körper zittert vor Wut, aber er spricht nicht mehr. Sag jetzt nichts, Jane. Ich lege ihm die Hand auf die Schulter, doch er schüttelt sie sofort ab. Halt dich zurück, Jane.
»Wir folgen diesem Wanderweg nicht.«
»In Ordnung«, antworte ich. »Es tut mir leid.«
»Das braucht es nicht. Lass uns gehen.«
Eine Stunde später nähern wir uns der Felsbrücke. Wir sind gut vorangekommen. Die Sonne steht hoch oben am Himmel, verborgen hinter herandrängenden Wolkentürmen, die von Norden her kommen. Sie sind weiß und dicht, keine Gewitterwolken, aber sie verhindern, dass die Sonne uns wärmt. Die Temperatur liegt um den Gefrierpunkt.
Wir kämpfen uns durch dichtes Buschwerk, und es gibt unter dem Schnee verborgenes Gestrüpp und Stacheln, die das Gehen sehr erschweren.
Dank des steilen Berghangs und der dichten Decke aus Gebüsch und Laub auf dem Waldboden ist der Schnee nicht besonders tief. Aber mit jedem Schritt werden mir neue Kratzer an Beinen, Hals und Gesicht zugefügt. Ich versuche es damit, mir meinen Schal ums Gesicht zu binden, doch er bleibt immer wieder irgendwo hängen. Ich lege mir den Arm über die Nase und verberge das Gesicht in meinem Ellbogen, während ich mit meinem anderen Arm Äste wegschiebe. Paul ist vorausgestapft, was hilft, aber Ranken und Geäst springen immer wieder zurück, und die eben
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