Survive
schmelzendem Schnee unter meiner Jacke hervor. Dann taste ich nach seinen Vorräten und hebe seine Jacke an, in der noch ein mit Wasser gefüllter Beutel steckt.
Als ich die Hand unter seine Jacke schiebe, spüre ich direkt neben dem Beutel eine dicke Schwellung zwischen seinen Rippen. Ich berühre sanft seine Rippen und folge der Schürfwunde und der Schwellung von der hinteren linken Seite seines Brustkorbs bis hinauf nach vorn in die Nähe seines Herzens. Ich frage mich, ob auch seine Rippen gebrochen sind.
Was ist, wenn er stirbt? Bitte, stirb nicht.
»Mach dir nicht so viel Gedanken, was passieren könnte«, kann ich Old Doctor sagen hören. »Es ist weder hilfreich, noch solltest du deine Zeit damit verschwenden.« Konzentrier dich, Jane. Ich sehe mich noch einmal um und laufe dann schnell in den dichten Wald mit dem umgestürzten Baum zurück. Ich finde den Baum und sammle so viele dürre Zweige, wie ich abbrechen und tragen kann.
Ich muss fünfmal hin und her gehen, aber schließlich habe ich genug Holz zu der Stelle befördert, an der Paul liegt, und schichte es dort zu einem Stapel auf. Ich öffne beide Schlafsäcke und decke den schlafenden Paul damit zu. Ich schaue zum Himmel auf – vermutlich erwarte ich mir Hilfe von dort. Oder zumindest Mitleid. Vielleicht suche ich auch nur nach einem Zeichen, dass ich nicht allein bin. Aber keine übersinnliche Stimme spricht zu mir und verkündet die Weisheit des Himmels. Da oben könnte genauso gut auch alles tot sein. Alles Leben findet hier unten statt.
Ich betrachte den schlafenden Paul, und mir wird klar, wie sehr er uns beim Weiterkommen aufhalten wird. Ein gebrochener Arm, eine Kopfverletzung und möglicherweise zerquetschte Rippen: Auf keinen Fall wird er in der Lage sein, hier herauszuklettern.
Ich sammle Steine von der Halde, auf die Paul gestürzt ist, um mit ihnen eine Feuerstelle zu bauen. Dann nehme ich die dünnsten und trockensten Zweige und schichte sie gitterartig übereinander auf. Ich greife in Pauls Rucksack und ziehe seine trockenen Streichhölzer und das Tagebuch seines Bruders heraus. Ich öffne es, greife nach dem Brief und lese ihn noch einmal.
Tränen treten mir in die Augen, und es schnürt mir die Kehle zu. Ich denke an das, was Paul und sein Vater wegwerfen, aber ich weiß, es ist nicht schlimmer als das, was mein Vater mir und seine Mutter ihm gestohlen hat. Ich stopfe den Brief in meine Tasche, um ihn sicher aufzubewahren, und wische mir mit dem Ärmel die Tränen weg. Ich nehme mir vor, dass ich nie wieder wissentlich einem anderen Menschen wehtun werde, wenn ich es schaffe, dieses Feuer zu entfachen.
Dann blättere ich zum Ende des Buches und reiße zehn leere Seiten heraus. Danach noch etliche weitere. Ich rolle sie fest zusammen, wie Zigaretten ohne Tabak. Früher habe ich mir meine Zigaretten selbst gedreht, daher weiß ich, um wie viel länger das Papier auf diese Weise brennen wird. Ich schiebe die Papierrollen vorsichtig unter das Gitter aus Ästen und Zweigen. Ich öffne die dünne Schachtel trockener Streichhölzer. Es sind nur noch drei übrig. Ich reiße eins an, und es brennt schon beim ersten Versuch. Ich setze die ersten fünf zusammengedrehten Seiten an ihrem unteren Ende in Brand, dann blase ich das Streichholz aus. Ich drehe es schnell um, halte das andere Ende in die Flammen, bis es brennt, und zünde damit die übrigen Papierrollen an.
Die Zweige rauchen und schwelen. Ich blase wieder und wieder unter sie, um die schwachen Flammen mit so viel Sauerstoff wie möglich zu versorgen. Funken fliegen, und die Glut leuchtet hell auf, aber sonst passiert nicht viel. Ich werde langsam nervös, daher reiße ich noch ein paar weitere Blätter Papier heraus, rolle sie wieder zusammen und lege sie sorgfältig neben die hellste Glut. Nachdem ich einige Minuten gepustet habe, beginnt ein kleines, stetiges Feuer zu brennen, und es wird unter den Ästen immer größer. Ich lege einige große trockene Holzstücke weiter nach unten, und dann kommt das Feuer richtig in Fahrt. »Ja!«, schreie ich. »Ich danke dir!«
Ich rede nicht mit Gott. Ich weiß nicht, zu wem oder zu was ich spreche. Aber ich beginne, an all die zu denken, die ich je geliebt habe: an meinen Vater, dessen Uhr mich mit ihm verbunden hat, als ich ihn am meisten brauchte; an das Lächeln und laute Lachen meiner Mutter – so selten es seit dem Tod meines Dads zu hören war, es ist immer noch in meinem Herzen; an meine Großmutter und all die
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