Susannah 4 - Auch Geister lieben süße Rache
die wir anziehen sollten, falls wir etwas anfassten. Jack langweilte sich mittlerweile ziemlich schlimm, und so ging er lieber wieder in den Ausstellungsraum und spielte mit dem Stereo-Betrachter, während ich mir die Handschuhe überstreifte.
Was eine gute Entscheidung war. Denn das, was Clive Clemmings mich anfassen ließ, war alles, was das Geschichtsmuseum im Laufe der Jahre über Maria de Silva gesammelt hatte.
Und das war einiges, kann ich nur sagen.
Aber was mich besonders interessierte, waren erstens ein winziges Gemälde - eine Miniatur, wie Dr. Clemmings sagte - von Jesse beziehungsweise Hector de Silva, wie Dr. Clemmings ihn nannte. (Offenbar hatten nur seine nächsten Verwandten ihn Jesse genannt … und ich natürlich.) Und zweitens fünf Briefe, die sich in einem sehr viel besseren Zustand befanden als die aus der Zigarrenbox.
Die Miniatur war makellos, wie ein kleines Foto. Meine Güte, hatten die Leute damals malen können! Jesse war perfekt getroffen. Er hatte diesen Zug um den Mund, den er immer hat, wenn ich ihm von einem Schnäppchenkauf erzähle - wenn eine Prada-Handtasche um die Hälfte reduziert war oder so. Diese Miene, die besagte, dass ihn das Thema gar nicht weniger interessieren könnte.
Auf dem Bild, das natürlich nur Jesses Kopf und Schultern zeigte, trug er ein Krawatten-ähnliches Ding, das damals wohl alle Männer getragen haben, so ein großes, weißes, rüschenbesetztes Teil, das man sich mehrfach um den Hals wickelte. Hatschi oder Schlafmütz hätten darin bombastisch lächerlich ausgesehen, und sogar Clive Clemmings - trotz seines Doktortitels.
An Jesse sah es dagegen natürlich umwerfend aus.
Aber an Jesse hätte selbst ein Mehlsack umwerfend ausgesehen.
Die Briefe waren dann sogar noch besser als das Bild. Weil sie nämlich an Maria de Silva adressiert waren … und von einem Herrn namens Hector unterschrieben.
Ich könnte nicht sagen, dass ich ein schlechtes Gewissen hatte, als ich die Briefe las. Auf jeden Fall waren sie um Längen interessanter als Marias Briefe - obwohl genauso unromantisch. Jesse erzählte einfach - und sehr eloquent, möchte ich hinzufügen - von allem, was auf der Ranch seiner Familie vor sich ging, was seine Schwestern Lustiges anstellten und so weiter. (Wie sich nämlich herausstellte, hatte er fünf Stück. Also Schwestern. Sie waren alle jünger als er und zum Zeitpunkt
seines Todes zwischen sechs und sechzehn Jahre alt gewesen. Aber hatte er mir gegenüber je ein Sterbenswörtchen über sie verloren? Nein, natürlich nicht.) Es ging in den Briefen auch um lokalpolitische Sachen und darum, wie schwer es war, gute Ranch-Angestellte bei der Stange zu halten, wo doch gerade der Goldrausch ausgebrochen war und alle auf und davon wollten, um sich einen Claim zu sichern.
Jesse schrieb so, dass man beim Lesen ständig das Gefühl hatte, ihn das alles sagen zu hören. Alles klang freundlich und warmherzig und nett. Viel besser als Marias Angeberbriefe.
Außerdem konnte ich keinerlei Schreibfehler entdecken.
Während ich die Briefe las, plapperte Dr. Clemmings etwas davon, er würde die neu entdeckten Briefe von Maria an Hector in die Ausstellung integrieren, die er für den Herbst plante - eine Ausstellung über den ganzen de-Silva-Clan und dessen Bedeutung für das Wachstum in Salinas County durch die Jahrhunderte.
»Wenn bloß noch jemand von ihnen am Leben wäre …«, sagte er wehmütig. »Von den de Silvas, meine ich. Es wäre einfach großartig, einen de Silva als Gastredner zu haben.«
Ich horchte auf. »Aber es muss doch welche geben. Haben Maria und dieser Diego nicht siebenunddreißig Kinder in die Welt gesetzt?«
Clive Clemmings sah mich streng an. Als Historiker - und sogar mit Doktortitel - hielt er offenbar gar nichts von Übertreibungen.
»Sie hatten elf Kinder«, verbesserte er mich. »Aber die sind streng genommen keine de Silvas, sondern Diegos. Die Familie de Silva hatte unglücklicherweise eher Töchter. Hector de Silva war der letzte männliche Nachkomme, fürchte ich. Wir werden natürlich nie erfahren, ob er irgendwo einen unehelichen männlichen Spross gezeugt hat. Wenn, dann sicher nicht in Nordkalifornien.«
»Er hat keinen Spross gezeugt«, sagte ich, wahrscheinlich etwas zu vehement. Aber ich war echt sauer. Der Sexismus dieser Theorie von wegen »der letzte männliche Nachkomme« kotzte mich an, aber noch schlimmer fand ich die Unterstellung dieses Typen, Jesse könnte sich irgendwo wild fortgepflanzt haben,
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