Susannah 6 - Auch Geister sind romantisch
hat!«, sagte er zähneknirschend. »Gib’s zu! Sie hat dir alles erzählt!« So schnell, wie er mich hochgerissen hatte, ließ er mich auch wieder los und drehte sich weg. Mit einem frustrierten Stöhnen fuhr er sich durch die Haare.
Meine Haut kribbelte, wo er sie berührt hatte.
»Hör mal, es tut mir leid«, sagte ich. Das meinte ich ernst. Ich konnte nachvollziehen, wie er sich fühlen musste. Sein Herz war nicht das einzige, das gerade zerbrach. »Also, dass deine Verlobte dich umbringen will, meine ich. Und das, wo du doch eigentlich gerade Schluss machen wolltest. Aber falls es dich tröstet: Ich glaube, sie ist ohnehin nichts für dich. Weißt du, das eine Mal, wo ich sie getroffen habe, hat sie auch versucht, mich umzubringen. Vielleicht ist es besser, dass du sie jetzt als die Schlampe erkennst, die sie in Wahrheit ist. Besser jetzt als nach der Hochzeit. Ich weiß noch nicht mal … Darf man sich in eurer Zeit eigentlich scheiden lassen?«
»Hör endlich auf!« Jesse raufte sich mittlerweile die Haare.
»Was, ›Schlampe‹ zu sagen?« Okay, das war vielleicht wirklich ein bisschen derb gewesen. »Schon gut. Aber die Frau ist nicht gerade eine Heilige.«
»Nein, das meine ich nicht!« Jesse starrte mich mit einer Eindringlichkeit an, die mir Angst machte. » Deine Zeit! Die Zukunft! Das meine ich! Du … Sie … Es tut mir leid, Miss Susannah, aber ich fürchte, ich muss doch den Sheriff unterrichten. Mir scheint, Sie haben wirklich nicht alle Sinne beisammen.«
» Miss Susannah!« Mir schossen Tränen in die Augen, als ich bemerkte, dass er wieder auf das förmliche »Sie« umgeschwenkt war. Ich wollte es gar nicht, aber ich konnte es nicht verhindern. Das war so … gemein …
»Wir sind also wieder beim ›Sie‹, ja?«, sagte ich unter Tränen. »Super! Ganz toll! Ich komme extra den ganzen weiten Weg hierher und riskiere eine totale atomare Hirnschmelze und du willst mir noch nicht mal glauben? Ich habe mir wahrscheinlich soeben eine Freikarte zu einem Leben mit gebrochenem Herzen eingebrockt, und alles, was du dazu zu sagen hast, ist, dass ich sie nicht mehr alle beisammenhabe? Danke Jesse, nee echt, vielen vielen Dank auch!«
Ich begann zu schluchzen. Das war mir alles zu viel. Ich konnte ihn nicht einmal mehr ansehen, weil er mich jedes Mal aufs Neue überwältigte, wie der Anblick des größten beleuchteten Weihnachtsbaums der Welt. Ich vergrub mein Gesicht in den Händen und weinte.
Vielleicht war das, was ich unternommen hatte, auch schon genug, versuchte ich, mir einzureden. Vielleicht würde ihn der Gedanke an Marias und Diegos Plan dazu bringen, nach Hause zurückzukehren. Auch wenn der Tipp aus einer für ihn unverlässlichen Quelle stammte. Aber mehr konnte ich nun wirklich nicht tun, oder? Was sollte ich noch anstellen, damit er mir glaubte?
Dann fiel es mir ein.
Ich nahm die Hände ruckartig vom Gesicht und schaute ihn an. Es war mir egal, dass er meine Tränen sah.
»Doktor«, sagte ich.
»Gute Idee.« Jesse reichte mir ein Taschentuch, das er von irgendwo hergezaubert hatte. Sein Ärger war sichtlich verraucht. »Ich werde den Doktor für Sie holen. Auch wenn Sie das Gegenteil behaupten, Miss Susannah, mich beschleicht wirklich das dumpfe Gefühl, dass Sie nicht recht gesund sind …«
»Nein!« Ich schob das angebotene Taschentuch von mir. »Nicht für mich. Es geht um dich.«
Der Hauch eines Lächelns umspielte seine Mundwinkel. » Ich brauche einen Doktor? Mit Verlaub, Miss Susannah, ich habe mich nie besser gefühlt.«
»Du verstehst nicht!« Ich richtete mich unsicher auf. Es war der erste Versuch zu stehen, seit Jesse mich losgebunden hatte, und es fiel mir nicht leicht.
Wenigstens musste ich nicht seine Hilfe in Anspruch nehmen, um auf die Füße zu kommen. Ich atmete schwer, aber nicht vor Anstrengung, sondern weil mich die Emotionen überwältigten.
»Doktor«, wiederholte ich mit einem Blick in seine selbstbewusste, wenn auch im Moment sorgenvolle Miene. Er war einen guten Kopf größer als ich, aber das war mir egal. Ich reckte das Kinn.
»Du möchtest gerne Doktor werden. Du hast deinen Vater noch nicht gefragt, aber er wird es dir ohnehin verbieten. Er braucht dich auf der Farm, weil du sein einziger Sohn bist. Sie könnten nicht lange genug auf dich verzichten, bis du dein Medizinstudium abgeschlossen hast.«
Da ging eine Veränderung mit Jesse vor. Der zweifelnde Ausdruck, den er gezeigt hatte, seit er das Porträt gesehen hatte, wich einem
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