Susannah 6 - Auch Geister sind romantisch
funktionieren. Ich werde mich nicht dem Gerede ihrer Familie aussetzen, ich sei nicht Manns genug gewesen, die Verbindung mit ihr persönlich zu lösen. Ganz gleich, wen sie mit welchen Schauermärchen vorausschickt. Ich werde sie morgen aufsuchen, ob ihr das nun gefällt oder nicht.«
Ich blinzelte ihn verwirrt an. Was meinte er denn damit?
Dann erinnerte ich mich – viel zu spät – wieder an ein Geheimnis, das Jesse mir einmal anvertraut hatte: Er war damals den ganzen Weg zur de Silva-Ranch nicht deshalb geritten, um Maria zu heiraten, sondern um die Verlobung zu lösen.
Das erklärte auch, warum bei seinem Leichnam, den mein Stiefbruder letzten Sommer aus Versehen ausgebuddelt hatte, Marias gesammelte Liebesbriefe an ihn lagen. In diesem Jahrhundert verlangte es die Sitte, dass Paare, die sich trennen, die Briefe zurückgeben, die sie einander geschrieben haben. Und Diego hatte Jesse ermordet, bevor dieser Austausch stattfinden konnte. Damit Marias Vater gar nicht erst auf die Idee kam, unbequeme Fragen über die Trennung zu stellen. Wie zum Beispiel, was Jesse dazu veranlassen könnte, sich von seiner Tochter zu lösen.
»Warte«, sagte ich, »bleib bitte noch. Maria hat mich nicht geschickt. Ich kenne sie noch nicht mal. Also, nicht in Person jedenfalls …«
»Aber du musst sie kennen!« Jesse schaute das Porträt in seiner Hand an. »Sie hat dir das hier gegeben. Es geht nicht anders. Wo sonst solltest du es herhaben?«
»Also, um ehrlich zu sein …« Ich zuckte beiläufig die Achseln. »Ich hab’s gestohlen.«
An seinem Gesicht konnte ich ablesen, dass dieser Satz ein Fehler war.
»Nein nein nein.« Ich fuchtelte mit den Händen vor seinem Gesicht herum. »Ganz ruhig, nicht aufregen! Ich habe es nicht von deiner geliebten Maria gestohlen, ganz bestimmt nicht. Ich habe es aus dem Museum geklaut. Aus dem Geschichtsmuseum von Carmel, wo es jahrzehntelang vor sich hingestaubt hat. Ich … ich bin mir sogar ganz sicher, dass Maria ihres noch hat!«
»Es wurden aber keine Duplikate angefertigt«, sagte Jesse streng.
»Das weiß ich doch.« Gott, war das anstrengend. »Aber schau dir doch mal das Porträt genau an. Siehst du nicht, wie alt es ist? Wie die Farbe bröckelt und wie angelaufen der Rahmen schon ist? Das Ding ist hundertfünfzig Jahre alt! Ich habe es in der Zukunft gestohlen, Jesse. Ich habe es als Hilfsmittel benutzt, um in diese Zeit zurückzureisen, damit ich dich warnen kann …« Na ja, knapp an der Wahrheit vorbei, aber gut genug für den Augenblick. »Das musst du mir glauben, Jesse. Paul – der Kerl, der mich gefesselt hat – kann das bestätigen. Er sucht gerade irgendwo da draußen nach Felix Diego, um ihn aufzuhalten.«
Jesse schüttelte nur den Kopf.
»Ich weiß nicht, wer du bist«, sagte er mit leiser, unheilschwangerer Stimme, die ich so noch nie von ihm gehört hatte. »Aber das hier …«, er hielt mir das Miniaturbild direkt vor die Nase, »… werde ich jetzt seiner rechtmäßigen Besitzerin zurückbringen. Was auch immer du hier für ein Spiel spielst, es endet jetzt! Hast du mich verstanden?«
Spiel? Unglaublich. Ich riskierte meinen Hals für ihn, und er war allen Ernstes sauer auf mich, dass ich ein bescheuertes Bild von ihm geklaut hatte? »Es ist kein Spiel, Jesse. Wenn das hier nur ein Trick wäre – wenn Maria mich wirklich geschickt hätte –, wie erklärst du dir dann all die Einzelheiten, die ich kenne? Woher sollte ich wissen, dass Maria und Diego ein heimliches Liebespaar sind? Woher sollte ich wissen, dass deine Verlobte – die, jetzt mal im Ernst, eine ziemlich hinterhältige Person ist – dich überhaupt nicht heiraten will? Und dass ihr Vater Diego nicht leiden kann und davon ausgeht, dass sie ihn nach der Hochzeit mit dir sowieso vergessen wird? Woher sollte ich wissen, dass die beiden einen Plan ausgeheckt haben, dich heute Nacht umzubringen und deine Leiche zu verstecken, damit es so aussieht, als hättest du dich aus dem Staub gemacht?«
»Nombre de Dios!« Jesse sprang fluchend auf. Dabei entging mir nicht, dass der Boden des Heuschobers unter ihm ein wenig nachvibrierte. Das führte mir noch einmal deutlich vor Augen, wie weit ich von meiner vertrauten Umgebung weg war. Denn bei Geister-Jesse wäre das nicht so gewesen.
Es gab noch einen anderen Unterschied, den ich einen Moment später zu spüren bekam, als Lebend-Jesse mich am Arm packte und verzweifelt schüttelte.
»Das weißt du alles nur, weil Maria es dir erzählt
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