Susannah 6 - Auch Geister sind romantisch
schloss seine Hand um das Porträt. Seine Augen funkelten vor Wut. »Nur eine einzige Person hat ein solches Bild von mir.«
»Ich weiß«, antwortete ich. »Deine Verlobte, Maria. Du bist hier, um sie zu heiraten. Zumindest hast du das vor. Du warst gerade auf dem Weg zu ihr, aber weil die Farm ihres Vaters noch ein ganzes Stück weg ist, hast du beschlossen, hier die Nacht zu verbringen. Gleich morgen willst du weiterreiten.«
Jesses Zorn schlug augenblicklich in Verwirrung um. Er fuhr sich mit der Hand durch sein dichtes schwarzes Haar. Wie immer wenn er nicht mehr weiterwusste mit mir. Es war so vertraut … und so süß, dass mir Tränen in die Augen stiegen.
»Woher wissen Sie das alles?«, fragte er völlig durcheinander. »Sind Sie … kennen Sie Maria? Hat sie – hat sie Ihnen das hier gegeben?«
»Nicht ganz …«, sagte ich.
Dann holte ich tief Luft.
»Jesse, mein Name ist Susannah Simon.« Ich legte einfach los, bevor ich es mir anders überlegen konnte. »Ich bin eine sogenannte Mittlerin. Ich komme aus der Zukunft. Und ich bin hier, um zu verhindern, dass du heute Nacht ermordet wirst.«
Kapitel 16
I ch brachte es einfach nicht übers Herz.
Dabei war ich so zuversichtlich gewesen. Ich hatte gedacht, ich könnte zusehen, wie Jesse starb. Die Alternative wäre schließlich, ihm niemals zu begegnen. Also war es kein Problem.
Aber das war gewesen, bevor ich ihn sah. Bevor ich mit ihm sprach. Bevor er mich berührte. Bevor mir klar war, wie er war und wie sein Leben verlaufen könnte, wenn es nicht noch in dieser Nacht endete.
Ich wusste jetzt, dass ich nicht einfach zusehen konnte, wie Jesse umgebracht wurde. Genauso wenig, wie … na ja, wie ich meinen Stiefbruder David vor ein fahrendes Auto schubsen oder meiner Mutter Fliegenpilze in die Suppe schummeln könnte. Ich konnte Jesse einfach nicht sterben lassen. Auch wenn das bedeutete, dass ich ihn nie wiedersehen würde. Ich liebte ihn zu sehr, um ihm das anzutun.
So einfach war das alles plötzlich.
Ich wusste schon jetzt, dass ich mich später dafür hassen würde. Gleich nach dem Aufwachen – wenn ich mich dann überhaupt noch an irgendetwas erinnerte – würde ich mich für den Rest meines Lebens hassen.
Aber was sollte ich machen? Ich konnte doch nicht tatenlos zusehen, wie der Mann, den ich liebte, sich in tödliche Gefahr begab. Pater Dom, mein Dad, selbst Paul – sie alle hatten recht behalten. Ich musste Jesse vor diesem Schicksal bewahren, wenn ich es konnte.
So und nicht anders war es richtig.
»Richtig« war natürlich nicht gleichbedeutend mit »einfach«. Am einfachsten wäre es jetzt gewesen, ihm eine lange Nase zu machen und zu sagen: »Ätsch-bätsch, angeschmiert! War nur Spa-haß!«
Stattdessen sagte ich: »Jesse, hast du mich gehört? Ich sagte, ich komme aus der Zukunft, um …«
»Ich habe sehr genau gehört, was Sie gesagt haben.« Er rang sich ein Lächeln ab. »Wisssen Sie, was jetzt das Beste wäre? Das Beste wäre, Sie ließen mich Mrs O’Neil holen. Sie kann sich um Sie kümmern, während ich in die Stadt gehe und den Doktor hole. Ich vermute nämlich, der Mann, der Sie gefesselt hat, hat Ihnen vorher noch einen Schlag auf den Kopf verpasst.«
»Jesse«, sagte ich ungeduldig, weil ich es kaum glauben konnte.
Da brachte ich dieses riesige Opfer, die Liebe meines Lebens zu retten, wohl wissend, dass ich ihn niemals wiedersehen könnte, und er hielt mich anscheinend für gaga. »Paul hat mir keinen Schlag auf den Kopf verpasst, okay? Mir geht’s gut. Ich bin noch ein bisschen durstig, aber sonst ist alles in Ordnung. Du musst mir jetzt genau zuhören. Heute Nacht wird Felix Diego sich in dein Zimmer hier in der Pension schleichen und dich erdrosseln. Dann verbuddelt er dich hier auf dem Hof, und deine Leiche kommt erst anderthalb Jahrhunderte später wieder zum Vorschein, wenn mein Stiefvater seinen Whirlpool auf unserer Terrasse installiert.«
Jesse schaute mich an. Ich war mir nicht ganz sicher, aber ich meinte, so etwas wie Mitleid in seinem Blick zu erkennen.
»Jesse, das ist mein Ernst. Du musst zurück nach Hause, okay? Schwing dich auf dein Pferd und reite heim. Und denk nicht mal dran, Maria de Silva zu heiraten.«
»Also doch: Maria hat dich geschickt«, sagte Jesse schließlich mit veränderter Stimme. Auch sein Gesicht nahm plötzlich dunklere Züge an. »Das ist ihre Art, ihr Gesicht zu wahren, nicht wahr? Nun, von mir aus geh zurück zu deiner Herrin und sag ihr, das wird so nicht
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