Susannah 6 - Auch Geister sind romantisch
sein …« Ich warf einen Seitenblick auf Paul, um mich zu vergewissern, dass er uns auch nicht hörte. »Eigentlich war ich gekommen, um ihn aufzuhalten. Ich wollte verhindern, dass Paul Diegos Plan vereitelt. Weißt du, es ist so: Wenn du heute Nacht nicht stirbst, werden wir – du und ich – uns in meiner Zeit, in der Zukunft, niemals begegnen. Und ich dachte, das könnte ich nicht ertragen. Du selbst … also dein zukünftiges Ich … du hast selbst gesagt, dass du das nicht möchtest. Aber jetzt … jetzt bin ich hier und lasse es doch zu. Das kann man nicht wirklich tapfer nennen, oder?«
Ich glaube nicht, dass er auch nur ein einziges Wort verstand. Mir war das egal. Es war das Beste, was ich für den Jesse, den ich kannte und liebte, als Entschuldigung für mein Handeln vorbringen konnte.
Denn schließlich war ich gerade dabei, alles zu zerstören, was uns verbunden hatte.
»Ich glaube, du irrst dich«, sagte Jesse. In Bezug auf meine Einschätzung, ich sei nicht tapfer.
Aber was wusste er schon? Ich lächelte ihn nur an.
Und da hörte ich es.
Kapitel 18
I ch weiß nicht, wie, ich bin schließlich nicht mit einem übermenschlichen Gehör ausgestattet. Aber aus irgendeinem Grund hörte ich es: das leise Scharren des sich öffnenden Scheunentors.
Auch Jesse, der an der Leiter stand, erstarrte und lauschte. Einen Moment später sah ich, wie Paul sich aufrichtete. Er hatte doch nicht geschlafen, sondern gelauert.
Keiner von uns wagte zu atmen.
Dann hörte ich ein Knarzen. Das war ein Stiefel auf einer Leitersprosse.
Diego. Das musste er sein. Diego kam, um Jesse zu töten.
Jesse schien meine Anspannung zu spüren. Er hob die Hand und hielt mir seine offene Handfläche entgegen – das internationale Zeichen für »Warte«. Er wollte, dass Paul und ich uns aus der Sache raushielten.
Keine Chance.
Langsam schoben sich Diegos Kopf und seine Schultern über die Kante des Heubodens hoch und zeichneten sich gegen das schummerige Halbdunkel hinter ihm ab. Sein Kopf drehte sich in die Richtung, in der Jesse ausgestreckt auf der Erde lag – alles andere schien er nicht wahrzunehmen.
Vorsichtig und leise, um sein Opfer nicht zu wecken, kletterte Diego zu uns herauf und kam herüber. Seine Schritte wurden vom Heu gedämpft. Näher und näher schlich er sich an uns heran. Noch drei Meter … noch zwei … noch einen … Ich spannte die Muskeln an und machte mich bereit. Wofür genau, wusste ich auch nicht so recht. Er war nicht gerade zierlich und mein Schwarzer Gürtel war gerade in der Reinigung. Für einen kurzen Moment dachte ich daran, die Zeiten zu wechseln.
Plötzlich spürte ich Pauls Hand auf mir. Er hielt mich am Ärmel meiner Motorradjacke zurück, damit ich Jesse eine Chance gab, die Sache allein zu regeln. Was für eine Ironie des Schicksals, dass ausgerechnet Paul, der die ganze Zeit gegen Jesse intrigiert hatte, jetzt auf seiner Seite war.
Noch ein halber Meter. So weit war Diego noch von dem vermeintlich schlafenden Jesse entfernt. Er griff an seine Hüfte, an seinen Gürtel. Ich sah das kurze Aufblitzen der Schnalle – genau der Gürtelschnalle, die in meiner Zeit auf dem Dachboden aufgetaucht war …
Diego zog sich den Gürtel aus, wickelte die Enden um seine geballten Fäuste und zog ihn in der Mitte straff. Damit wollte er Jesse erdrosseln. Doch dazu kam es nicht. Denn Jesses Stimme durchschnitt auf einmal die Stille.
Er sagte etwas auf Spanisch. Auf Spanisch! Warum zum Teufel hatte ich in der Schule Französisch genommen und nicht Spanisch?!
Sichtlich überrascht taumelte Diego einen Schritt zurück.
Ich konnte mich nicht mehr zurückhalten.
»Was hat er gesagt?«, zischte ich Paul zu.
Paul war nicht gerade scharf darauf, für mich den Übersetzer spielen zu müssen. »Er hat gesagt: ›Es stimmt also wirklich.‹ Und jetzt halt den Mund, ich will zuhören.«
Diego fing sich sofort wieder. Er ließ nicht einmal die Fäuste sinken, zwischen denen immer noch der Gürtel gespannt war. Stattdessen antwortete er Jesse. Auf Spanisch!
Paul übersetzte ungefragt für mich: » ›Du weißt es also schon. Ja, es stimmt, ich bin hier, um dich zu töten.‹«
In Jesses Antwort konnte ich zumindest einen Namen erkennen.
»Er fragt, ob Maria ihn geschickt hat.«
Diego lachte und nickte. Dann stürzte er nach vorn.
Zum Schreien kam ich gar nicht. Ich hatte vor Schreck tief Luft geholt, um mir die Seele aus dem Leib zu brüllen, aber stattdessen stockte mir der Atem. Denn statt sich
Weitere Kostenlose Bücher