Susannah 6 - Auch Geister sind romantisch
unter seinem Angreifer wegzurollen, wie ich es an seiner Stelle getan hätte, sprang Jesse auf die Füße und stellte sich seinem Kontrahenten.
Die beiden stolperten gefährlich nahe an den Rand des Heubodens, unter dem es vier Meter in die Tiefe ging. Im Halbdunkel war schwer zu erkennen, was gerade ablief, aber eines war sicher: Diego war wegen seines Gewichts klar im Vorteil.
Auch Paul und ich sprangen auf, ohne dass einer der beiden Kämpfenden uns bemerkte. Ich wollte Jesse zu Hilfe eilen, aber Paul hielt mich erneut am Ärmel zurück.
»Das ist ein Kampf Mann gegen Mann«, sagte er nur.
Pustekuchen. Als die beiden Männer sich voneinander lösten und Diego den Gürtel weit von sich schleuderte, sah ich, dass das alles andere als ein fairer Kampf war. Diego hatte ein Messer gezückt. Die Klinge blitzte im Schein der Laterne, die etwas abseits neben den beiden auf dem Heuboden stand.
Jetzt durfte die Luft endlich aus meinen Lungen weichen und ihren Zweck erfüllen. »Jesse!«, schrie ich aus Leibeskräften. »Das Messer!«
Diego wirbelte herum. »Wer ist da?« Diesmal in meiner Sprache.
Diese Ablenkung verschaffte Jesse genug Zeit, aus dem Stiefel sein eigenes Messer zu ziehen, mit dem er kurz zuvor meine Fesseln durchgeschnitten hatte.
»Ich kann da nicht tatenlos zusehen!«, sagte ich zu Paul. »Die bringen sich ja um!«
»Solange es den Richtigen von den beiden erwischt, ist es doch das, was wir wollen …«, sagte Paul und hielt mich weiter eisern fest.
Was zum Teufel war bloß mit Paul los? Jesse und Diego umkreisten einander jetzt vorsichtig, gefährlich nahe am Abgrund. Wir hätten die beiden doch so leicht aufhalten können – es sei denn …
Konnte das sein? War Paul auf Diegos Seite? War das Ganze nur ein Trick gewesen? Hatte er Diego – entgegen seiner vollmundigen Aussage – wirklich nicht gefunden? Oder hatte er womöglich gar nicht nach ihm gesucht, um das Vergnügen zu haben, später am Abend Jesses Ermordung live miterleben zu können? Das wäre die einzige Erklärung für all den Aufwand, den er betrieben hatte – nur um Jesse sterben zu sehen …
Ich riss mich von ihm los.
»Du willst, dass Jesse stirbt!«, schrie ich ihn an. »Das ist es doch, was du willst, gib’s doch zu!«
Paul schaute mich an, als wäre ich total durchgeknallt. »Spinnst du? Der einzige Grund für diese bescheuerte Zeitreise war doch, genau das zu verhindern!«
»Aber warum hilfst du ihm dann nicht?«
»Ich brauche keine …«, rief Jesse und duckte sich unter Diegos plötzlichem Messerangriff weg, »… Hilfe!«
»Wer sind denn diese Gestalten?«, fragte Diego knurrend und machte erneut einen Satz auf Jesse zu.
»Niemand«, antwortete Jesse. »Kümmere dich nicht um sie. Das hier geht nur uns beide etwas an!«
»Siehste?«, sagte Paul mit ekelerregender Genugtuung in der Stimme. »Bleib mal locker.«
Bleib mal locker, haha … Ich schaute hier meinem Freund – gut, streng genommen war er das ja noch nicht – bei einem Kampf auf Leben und Tod zu! Mein Herz pochte mir bis zum Hals, und ich konnte kaum atmen, während die beiden Männer einander mit ihren blitzenden Klingen umkreisten.
Da passierte es: Diego fasste mit einer blitzschnellen Bewegung hinter sich und griff nach …
… mir!
Ich war so perplex, dass ich nicht reagieren konnte. Eben noch hatte ich fassungslos neben Paul gestanden und mir das blutrünstige Spektakel angesehen – und plötzlich war ich mittendrin. Ich hatte Diegos Ellbogen um meinen Hals, sodass ich kaum noch Luft bekam. Er hielt mich als menschlichen Schutzschild vor sich und drückte mir mit der anderen Hand sein Messer an den Hals.
»Lass das Messer fallen«, herrschte er Jesse an. Er hatte mich so eng an sich gepresst, dass der Widerhall seiner Stimme in meinem Körper vibrierte. »Oder das Mädchen stirbt!«
Selbst im Halbdunkel sah ich alle Farbe aus Jesses Gesicht weichen. Ohne zu zögern, ließ er das Messer fallen.
»Suze«, schrie Paul. »Wechseln, jetzt!«
Erst nach einer Schrecksekunde begriff ich, was er meinte. Diego und ich berührten uns. Ich musste mir nur den Korridor vorstellen, diese Zwischenebene zwischen den Welten, und mich dorthin teleportieren, mit Diego im Schlepptau …
Dann wären wir ihn ein für alle Mal los.
Aber bevor ich auch nur meine Augen schließen konnte, stieß Diego mich von sich und ging auf Jesse los. Der Schrei, der sich in meiner Kehle bildete, während ich fiel, blieb darin stecken. Diego hatte mir den Hals
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