Susanne Barden - 03 in New York
war sehr hübsch eingerichtet, mit Blattpflanzen und einem Gummibaum in einer Ecke. Als Susy es zum zweitenmal betrat und sich suchend umsah, ertönte plötzlich ein Kichern aus den Blattpflanzen. Dann sagte die Stimme von vorhin: »Aufwiedersehen! Kommen Sie recht bald wieder.« Susy ging zögernd näher und erblickte einen großen grünen Papagei, der sie neugierig ansah. »Hallo!« sagte er liebenswürdig.
»Na - das ist doch —«, stotterte der Portier, der ebenfalls hinzugekommen war. Sein Gesicht war immer noch ganz bleich.
Susy lachte ein wenig zittrig. »Unartiger Polly!« schalt sie. Der Papagei lachte ebenfalls. »Oh!« schrie er zurück. »Oh! Ha, ha, ha!«
Die sonderbaren, so menschlich klingenden Töne verfolgten Susy und den Portier noch, als sie die Treppe hinuntergingen.
Als die beiden Freundinnen nachmittags heimfuhren, tauschten sie unter viel Gelächter ihre Erlebnisse aus. Susy meinte, die meisten Leute machten sich ganz falsche Vorstellungen von dem Leben einer Henry-Street-Schwester. »Wenn man in Zeitungen oder Zeitschriften etwas über uns liest, bekommt man den Eindruck, als gingen wir selbst am hellen Tage in tiefster Dunkelheit umher, unterdrückten dauernd ein Schluchzen und gebrauchten unseren Heiligenschein dazu, um düstere Verliese zu erhellen.«
»Du hast recht«, sagte Kit. »Die Leute wollen nicht begreifen, daß wir keine Leichenbestatter sind, sondern das Leben schön machen wollen. Sie haben keine Ahnung davon, wieviel hübsche und lustige Dinge wir erleben - wie ich zum Beispiel gestern. Ich blieb bei einem Mann mit einem Obstwagen stehen und fragte ihn nach dem Befinden seiner Frau, die eine Patientin von mir ist. Er rief >Warten Sie!<, und bevor ich ihn zurückhalten konnte, war er fort. Da stand ich nun allein neben dem Obstwagen. Bald kamen Leute und wollten etwas kaufen. Was sollte ich machen? Ich hab’ eben verkauft. Du hättest mich sehen sollen, mit der Tasche und allem, wie ich eifrig Bananen und Apfelsinen ausgab und Geld wechselte - bis der komische Mann endlich mit seiner Frau im Schlepptau zurück-
kam, um sie mir vorzuführen. Das sage ich dir - wenn mich Henry Street einmal rausschmeißt, kaufe ich mir einen Wagen und mache ein Obstgeschäft auf!«
Anderthalb Minuten
Als Susy eines Nachmittags ins Büro zurückkehrte, sah sie Kit in ein Gespräch mit einer Schwester vertieft in der Halle sitzen. Sie wollte auf die Freundin warten, um mit ihr nach Hause zu fahren, und schlenderte müßig umher. Das Haus in Henry Street war von einer ungewöhnlichen Unruhe erfüllt. Susy vernahm Stimmengewirr, Türklappen und eilige Schritte, gab aber nicht weiter darauf acht. Wahrscheinlich fand irgendeine Versammlung oder ein Vortrag statt.
Langsam stieg sie die Treppe hinauf, trat in das große Empfangszimmer und betrachtete ein Bild an der Wand. Es war die Kopie von einem Ölbild des Malers Moroni, das in Paris im Louvre hängt, und stellte einen Schneider dar, der sich über seinen Arbeitstisch beugt - eine würdige Gestalt der vergangenen Welt mit einem gesammelten, verinnerlichten Gesicht.
Dieses Bild hatte eine Geschichte. Vor einigen Jahren, als Lillian Wald die Henry-Street-Stiftung noch selber leitete, fiel es ihr auf, daß sich bei einigen jungen Leuten des Bezirks ein peinlicher Snobismus breitmachte. Es waren vorwiegend Söhne und Töchter von Schneidern, die sich des Berufs ihrer Väter schämten.
Lillian Wald ließ daraufhin das Bildnis des Schneiders in das Haus in der Henry Street bringen und hängte es an einem bevorzugten Platz im Empfangszimmer auf, um den jungen Leuten zu zeigen, daß die Welt einen tüchtigen Handwerker wohl zu schätzen weiß, welches Handwerk er auch immer betreibt.
Während Susy das versonnene Gesicht des Schneiders betrachtete, fragte sie sich, was dieser Mann wohl von der heutigen Welt denken würde, in der die Jugend alte Bräuche verlachte und Verhältnisse verspottete, die gut und ehrwürdig waren. Plötzlich hörte sie leichte Schritte hinter sich, und eine weibliche Stimme fragte: »Gefällt Ihnen das Bild?«
Susy wandte sich um. Hinter ihr stand eine mittelgroße Frau mit grauem Haar, das Gesicht von vielen feinen Linien gezeichnet. Es war das gütigste Gesicht, das Susy jemals gesehen hatte; und dennoch drückte es Kraft und Entschlossenheit aus. Das ganze Zimmer war plötzlich wie elektrisiert von dieser Frau.
Susy fand nicht gleich eine Antwort auf die an sie gerichtete Frage. Sie fühlte sich auf einmal sehr
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