Susanne Barden - 03 in New York
unsicher. Wieder blickte sie auf das Bild und sagte dann zögernd: »Ja, es gefällt mir. Ich finde es sehr, sehr schön. Aber noch schöner erscheint mir der Gedanke, mit dem es hier aufgehängt wurde.« Sie zögerte ein wenig, weil sie nicht wußte, ob sie der Fremden die Geschichte des Bildes erzählen müßte. Aber die Frau schien sie zu kennen, denn sie nickte kurz. »Dieser Gedanke - ist typisch für den Geist von Henry Street«, erklärte Susy stockend.
»So? Warum denn?«
Susy suchte nach Worten. Sie war sonst recht wortgewandt und nahm nur Zuflucht zu der schnippischen Redeweise ihrer Generation, wenn sie bewegt war. Aber das gütige Gesicht dieser Frau zwang sie zu einem offenen Bekenntnis. »Weil«, begann sie schüchtern, »weil - hier alle durch ein Gefühl der Zusammengehörigkeit - verbunden sind. Ich meine - hier ist niemand mehr als der andere; und jeder versucht jedem anderen alles recht zu machen.« Sie stockte.
»Nun? Sprechen Sie weiter.«
»Ich meine - wenn der Geist von Henry Street sich immer weiter ausbreitete - über die ganze Erde - dann würde es bald keine Armut mehr geben - und auch keinen Snobismus. Je mehr man darüber nachdenkt, desto großartiger ist es.«
Die Frau lächelte, und es sah aus, als sei ihr Gesicht plötzlich von hellem Sonnenschein erhellt. »Das höre ich gern«, sagte sie freundlich. »Denken alle meine Schwestern so?«
»Ganz bestimmt!« Plötzlich durchfuhr Susy ein Ruck. Die Frau hatte »meine Schwestern« gesagt. Sie errötete. »Oh! Sie sind doch nicht etwa — Sind Sie - Lillian Wald?«
»Ja, ich bin Lillian Wald.« Sie sagte es nicht im Ton einer besonderen Ankündigung, sondern ganz einfach und bescheiden, als wäre der Ruf, der mit diesem Namen verknüpft war, nur zufällig entstanden und für sie selber überraschend. Susys Name wurde daneben völlig bedeutungslos. »Ich heiße Susanne Barden«, murmelte sie. Es klang wie eine Entschuldigung.
»Ich bin froh, Sie kennengelernt zu haben, Susanne Barden, und wünsche Ihnen viel Glück bei Ihrer Arbeit.«
»Danke«, stammelte Susy.
Nachdem Lillian Wald gegangen war, blieb sie lange Zeit regungslos vor dem Bildnis des Schneiders stehen. Schließlich fand Kit sie dort.
»Ach, hier bist du! Ich hab dich überall gesucht. Denk nur, Lillian Wald ist hier gewesen!«
»Ich weiß. Ich hab sie gesehen.«
»Wo denn?«
»In diesem Zimmer. Sie hat mit mir gesprochen.«
»Wirklich? Wie war es denn? Ist sie nett?«
»Ich hatte das Gefühl, als müßte ich meinen Hut abnehmen, ihn auf die Erde legen und mich darunter verkriechen.«
Kit machte ein verwundertes Gesicht. »Warum denn?«
»Weil sie eine große Frau ist, Kit. Ich meine - nicht weil sie berühmt ist - sondern - sie ist ein großer Mensch - innerlich.«
»Ach! Hättest du das auch empfunden, wenn du nicht gewußt hättest, wer sie ist?«
»Zuerst wußte ich es ja gar nicht. Aber in dem Augenblick, als sie ins Zimmer trat, fühlte ich, daß etwas Besonderes von ihr ausgeht. Es ist eine Kraft - nein, mehr als das - eine unbeschreibliche Güte - in ihrer Stimme - in ihren Augen. Man spürt sofort, daß diese Frau niemals kleinlich sein kann. Sie ist der einzige mir bekannte Mensch, von dem ich mit Sicherheit weiß, daß er sich niemals schäbig benehmen kann.«
»Wie lange hast du denn mit ihr gesprochen?«
»Anderthalb Minuten.«
»Und all das hast du in anderthalb Minuten bemerkt?«
»So etwas bemerkt man nicht«, antwortete Susy. »Es geht einem wie ein Feuerwerk auf.«
Veränderungen
Im Juni vertauschten die Schwestern ihre schweren Wintermäntel gegen leichte marineblaue Sommermäntel und die schwarzen Filzhüte gegen helle Strohhüte. In Manhattan war es wundervoll im Juni. Der leichte Dunst, der stets über dem Hafen hing, legte sich wie ein durchsichtiger blauer Schleier über die engen Straßen und die Grünanlagen der Ostseite. Wieder erschienen Blumenkästen vor den Fenstern und malten lustige bunte Flecke auf die grauen Gesichter der Mietskasernen. Alte und Kranke erwachten aus ihrer Winterstarre, kamen hinaus ins Freie und sonnten sich an Straßenecken und auf Parkbänken.
Am östlichen Ufer des Flusses verwandelten sich alle größeren Jungen in mutige Sportler. Mit geflickten Badehosen bekleidet, hielten sie wachsam nach Polizisten Ausschau, denn das Baden in dem verunreinigten Wasser war verboten. Ihr Geschrei hallte in den engen Straßen wider. Kleine Jungen vergaßen ihr Murmelspiel und starrten ehrfürchtig zu ihnen hin.
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