Sushi und Kartoffelbrei Ticktack
sie immer nur eine halbe, halbherzige Aufmerksamkeit genießen. Wie konnte eine Frau auch mit den glänzenden Verlockungen von Hollywood konkurrieren?
Vor Jahren hatte sie sich gelegentlich vorgestellt, wie viele Leute wohl auf ihrer Beerdigung erscheinen würden. Es war ein Test, um festzustellen, wie es um sie stand. Manchmal war das eine beeindruckende Menschenparade gewesen – als sie noch zur Schule ging, zum Beispiel. Sie konnte es damals vor sich sehen: ihre Schulkameradinnen, die hysterisch in ihre Taschentücher heulten, während der hübsche weiße Sarg vorbeigetragen wurde. Und auf der Uni wären sicher auch genügend Kommilitonen aufgetaucht, um den ideologisch korrekten einfachen Holzsarg zu seiner letzten Ruhestätte zu begleiten. Allein ihre Verflossenen hätten ein paar Sitzreihen gefüllt.
Aber wenn es jetzt passieren würde (ein geschmackvoller Eichensarg mit Messinggriffen), dann könnte sie wohl, abgesehen von ihrer Familie, bloß auf ein paar Leutchen von Verve zählen, von denen die meisten sich mehr um ihr eigenes Aussehen als um Clares Dahinscheiden sorgen würden. Und jetzt würde nicht mal Leo dabei sein. Sie hatte das Gefühl, als würde sie kaum mehr irgendwelche Bande besitzen, die sie an diesen Planeten fesselten, niemanden, den es kümmerte, was
sie tat oder nicht tat. Sie konnte den Strick durchschneiden und einfach davonschweben, wie ein Ballon; niemand würde etwas auffallen. Das Selbstmitleid drohte sie zu überwältigen.
Müde lehnte sie sich auf dem Sofa zurück und griff in tiefster Verzweiflung nach dem letzten »Liebe Marion« -Brief, der noch in der Mappe steckte.
Liebe Marion, hieß es da in einer hübschen femininen Handschrift.
Ein Arbeitskollege, den ich sehr mag und bewundere, hat mich gebeten, ihn in ein paar Monaten auf eine Hochzeit zu begleiten. Obwohl er sehr nett, humorvoll und attraktiv ist und Kinder und Tiere mag und sich wegen der Umweltverschmutzung und so Sorgen macht, überlege ich dennoch, ob es ratsam ist, Privates und Berufliches so zu vermischen, da es zu Unannehmlichkeiten führen könnte. Andererseits mag ich diesen Mann wirklich sehr. Er ist Seniorpartner der Firma und besitzt ein eigenes Ferienhaus an der Südküste. Und einen Bentley. Bitte raten Sie mir, was ich tun soll.
Hochachtungsvoll, »Am Scheideweg«
Liebe »Am Scheideweg«, tippte Clare.
Nehmen Sie die Einladung unter gar keinen Umständen an. Ihre Mutter hat absolut Recht, wenn sie Ihnen einhämmert, dass Männer immer nur hinter einem her sind, und das ist etwas, was sich mit dem Arbeitsplatz schlecht verträgt. Offen gesagt, er ist ein unsensibler Trottel, dass er Ihnen überhaupt vorschlägt, auf eine todlangweilige Hochzeitsfeier mit ihm zu gehen. Wenn ich’s recht überlege, könnten Sie ihn sogar wegen unsittlicher Belästigung am Arbeitsplatz verklagen. Auf diese Weise hätten Sie ein paar Kröten extra, die Sie für eine gute Flasche Wein, ein Buch und einen qualitativ hochwertigen Vibrator ausgeben könnten, der ohnehin besser ist, als jeder Mann es je sein könnte.
Ich begreife nicht, wie dieser Mann Ihren Arbeitsplatz gefährden kann, nur weil er egoistisch genug ist, nicht allein an dieser öden Feier teilnehmen zu wollen. Und seien Sie darauf gefasst: Er wird sich auf dem Heimweg sicher zum Idioten machen und Sie begrabschen wollen, und das Ganze wird so peinlich werden, dass Sie einander nie wieder ins Gesicht sehen können. Also müssen Sie Ihre Stelle kündigen, werden lange arbeitslos sein, die Raten für Ihre Wohnung nicht mehr zahlen können, das Dach über dem Kopf verlieren und als Pennerin irgendwo unter einer verdammten Brücke enden. Befolgen Sie meinen Rat, meine Liebe: Schicken Sie den Bastard zum Teufel!
2. KAPITEL
Clare wachte am nächsten Morgen mit einem hässlichen Brummschädel und der Erinnerung an das albtraumhafte Telefonat mit Leo auf. Da sie beides so schnell wie möglich vergessen wollte, stürzte sie sich eiligst wieder in Morpheus’ Arme, überhörte den Wecker und verpasste den Frühzug. Sie kam erst im Ballsaal an, als alle bereits Platz genommen hatten.
Perfekt, dachte sie säuerlich, während sie sich durch die Tür drückte. Jetzt musste sie sich auch noch zerzaust, verschwitzt und abgehetzt, wie sie war, durch einen Saal voller Rivalinnen und möglicher zukünftiger Arbeitgeberinnen schlängeln.
Als sie schließlich ihren Sitzplatz erreichte, flüsterte sie Fiona, die neben ihr saß, hektisch Entschuldigungen zu und
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