Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Suter, Martin

Suter, Martin

Titel: Suter, Martin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Allmen und die Libellen
Vom Netzwerk:
seinen beiden Vornamen Hans und Fritz, die er nach
Familientradition von seinen beiden Großvätern geerbt hatte, war er umgekehrt
verfahren. Er hatte ihnen den bäurischen Geruch genommen, indem er schon früh
den bürokratischen Aufwand auf sich genommen hatte, sie amtlich zu Johann und
Friedrich zu veredeln. Von seinen Freunden ließ er sich John nennen, Fremden
stellte er sich knapp und bescheiden als Allmen vor. Aber in offiziellen
Dokumenten hieß er Johann Friedrich von Allmen. Und die Briefumschläge, die er
vor dem späten Frühstück im Viennois von seinem Postfach abholte und achtlos
neben die Kaffeetasse legte, waren an Herrn Johann Friedrich v. Allmen
adressiert, wie es in seinem Briefkopf stand. Diese Schreibweise sparte nicht
nur Platz, sie verschob den Akzent auch automatisch vom »O« des »von« auf das
»A« von »Allmen«. Und hatte ihm auch zum nur halb scherzhaften Ehrentitel
»Conte« verholfen, den ihm Gianfranco verliehen hatte.
    Die meisten Nach-zehn-Uhr-Gäste des Viennois kannten sich.
Trotzdem hielten sie sich streng an ihre ungeschriebene Sitzordnung. Die einen
allein an ihren Tischchen, die sie mit allerlei Mänteln, Handtaschen, Mappen
und Lesestoff belegten, damit ja niemand auf die Idee kam, sich dazuzusetzen.
Andere zu zweit mit immer demselben Partner, wieder andere mit einer
Stammtischrunde in ebenfalls gleichbleibender Besetzung. Manche der Nachzehn-Uhr-Gäste
grüßten sich vernehmlich, manche nickten sich stumm zu, manche ignorierten sich
seit Jahren.
    Eine der Stammtischrunden befand sich zwei Tische von
Allmens Tisch entfernt. Vier Ladenbesitzer, alle um die sechzig, trafen sich
dort täglich außer sonntags von Viertel nach zehn bis Viertel vor elf. Ihre
und Allmens Präsenzzeiten überschnitten sich jeweils um eine Viertelstunde.
    Einen der vier kannte Allmen etwas näher. Er besaß ganz in
der Nähe ein gehobenes Antiquitätengeschäft. Sein Name war Jack Tanner. Ein eleganter
Mann Ende fünfzig, der sich in seinen Antiquitäten bewegte, als seien sie
nicht zum Verkauf bestimmt, sondern einzig zur Befriedigung seiner ästhetischen
Ansprüche. Allein durch seine Erscheinung rechtfertigte er die überhöhten
Preise seines Angebots. Er war von der für seinen Beruf unabdingbaren Diskretion,
sowohl was seine Käufer als auch seine Verkäufer betraf. Das hatte Allmen dazu
bewogen, sich für ihn zu entscheiden, wenn er gezwungen war, gewisse bessere
Stücke aus seiner Sammlung zu veräußern. Nie ließen sich die beiden bei ihren
flüchtigen Begegnungen im Viennois auch nur im Geringsten anmerken, dass sie
auch geschäftlich gewisse Berührungspunkte besaßen.
    Vor dem Schaufenster neben Allmens Tischchen begannen die
Passanten ihre Schirme aufzuspannen. Die graue Suppe über den Dächern nieselte
jetzt als kalter Wasserstaub auf die Stadt. Allmen verschob seinen Aufbruch und
bestellte noch eine Schale.
    Es war kurz nach halb zwölf, als er sich zum Gehen
bereitmachte, obwohl das Wetter sich nicht gebessert hatte. Er gab Gianfranco
das Zeichen für die Rechnung, unterschrieb sie und drückte dem Ober eine
Zehnernote in die Hand. Allmen hatte gelernt, das bisschen Geld, über das er
noch verfügte, in seine Kreditwürdigkeit zu investieren anstatt in seinen
Lebensunterhalt.
    Gianfranco brachte ihm den Mantel und begleitete ihn zum
Ausgang. Er blickte der Gestalt, die mit hochgeschlagenem Mantelkragen zwischen
den Regenschirmen verschwand, versonnen nach und murmelte: »Un
cavaliere.«
     
    Der Intercity mit Neigetechnik fuhr durch die nebelverhangenen
Weinberge des Neuenburgersees, von dem nicht einmal das Ufer zu sehen war. Allmen
hatte ein Abteil für sich. Auf dem blauen Nebensitz stand ein geräumiger
Pilotenkoffer aus braunem Schweinsleder. Er las noch immer in seinem Krimi.
    Als die sanfte Mikrophonstimme Yverdon-les-Bains ausrief,
unterbrach er seine Lektüre. Der Name rief eine Jugenderinnerung wach. Er hatte
ihn zu Beginn der achtziger Jahre oft bei Tischgesprächen gehört. Sein Vater
hatte in der Gegend viel Geld in Land investiert, von dem er hoffte, dass es im
Zusammenhang mit der Eröffnung eines Teilstücks der Autobahn A5 in die
Bauzone umgezont würde. Die Sache ging schief, und sein Vater schrieb es nicht
seinen mangelnden Französischkenntnissen zu, sondern dem »welschen
Schlendrian« der Yverdoner Lokalpolitiker.
    Es blieb einer der wenigen geschäftlichen Misserfolge
seines Vaters. Er hinterließ dem Sohn ein Millionenvermögen. Dessen Fundament
hatte er mit

Weitere Kostenlose Bücher