Symphonie der Herzen
zurück zur Vorderseite des Theaters und beschloss, sich ebenfalls die Nachmittagsvorstellung anzusehen. Er kaufte eine Karte, betrat das Theater und schaute als Erstes zu der Privatloge der Russells hinauf. Doch die war leer, und so vermutete er, dass Louisa wohl irgendwo im Publikum saß. Geduldig wartete er, bis die Lichter ausgingen und der Vorhang sich hob; erst dann schritt er langsam an den Stuhlreihen vorbei und musterte die dort versammelten Matronen. Schließlich entdeckte er Louisa - sie saß natürlich ganz vorne - und nahm leise den Platz unmittelbar hinter ihr ein. Lu war so konzentriert auf das Stück und die Darsteller, dass sie gar nicht bemerkte, was sonst noch um sie herum vor sich ging.
James lächelte, als er hörte, wie sie leise die Lieder mitsang. Und er ahnte bereits, dass sie sich im Stillen regelrecht danach verzehrte, ebenfalls dort oben auf der Bühne zu stehen und mitzuspielen. Überhaupt schien sie die Vorstellung sehr zu genießen, und so entschied er, dass er lieber bis zur Pause warten würde, ehe er sich ihr zu erkennen gab.
Langsam wurde der Vorhang hinabgelassen, und das Publikum klatschte und pfiff voller Begeisterung, sodass James die Gelegenheit nutzte, um sich leicht auf seinem Sitz vorzubeugen und zu murmeln: »Lady Lu ist offensichtlich bühnensüchtig, nicht wahr?«
Entsetzt drehte sie sich zu ihm um. »Ihr Schuft! Wie könnt Ihr mich nur so erschrecken? Ich hätte beinahe einen Herzinfarkt bekommen.«
James hingegen grinste bloß. »Aber doch nicht, weil ich Euch plötzlich anspreche, sondern weil Ihr wisst, dass Ihr gerade etwas sehr Ungehöriges tut.«
Empört schaute Lu ihn an. »Ich habe in meinem ganzen Leben noch nichts Ungehöriges getan.«
»Bislang vielleicht noch nicht«, neckte er sie. »Aber verspürt Ihr nicht auch ab und zu das Verlangen, irgendwann etwas Verbotenes zu wagen?«
»Doch, und mir fällt da sogar schon etwas ein. Und zwar werde ich Euch gleich mit meiner Hutnadel erstechen, wenn Ihr nicht endlich aufhört, mich aufzuziehen.«
»Blutdürstige Hexe!«, lachte er, bot dann aber in versöhnlicherem Tonfall an: »Wie wäre es - hättet Ihr Lust, nach der Aufführung mit mir hinter die Kulissen zu schlüpfen und die Schauspieler kennenzulernen?«
Louisa hielt überrascht den Atem an. »Ja, ginge das denn?«
»Natürlich ginge das. Die Frage ist nur, ob auch ich Lust dazu habe, Euch mitzunehmen. Es käme ganz auf die Gegenleistung an.«
Hochmütig hob Lu das Kinn und blickte ihn starr an. »Sagt schon! Was verlangt Ihr?«
James wackelte einmal vielsagend mit den Augenbrauen und flüsterte schließlich: »Welchen Preis wärt Ihr denn bereit zu bezahlen?«
»Was für ein Teufel Ihr doch seid!« Abrupt wandte sie ihm wieder den Rücken zu und beschloss wütend, von nun an einfach nicht mehr mit ihm zu reden. Ob er mich wohl wirklich mit hinter die Bühne genommen hätte?, überlegte sie derweil im Stillen und ärgerte sich fast schon wieder, nicht auf sein Angebot eingegangen zu sein.
Mit kerzengeradem Rücken saß sie da, während der kastanienbraune Vorhang sich langsam wieder hob. Doch auch wenn sie James nun nicht mehr anschaute, so war sie sich seiner Anwesenheit sehr intensiv bewusst. Wie konnte er es nur wagen, mir bis ins Theater zu folgen?, dachte sie verärgert. Unterdessen fühlte sie, wie seine Aura sie regelrecht zu umschließen schien, und dieses Gefühl war mindestens ebenso bezwingend wie verstörend. Wie schafft dieser Abercorn es bloß, mich immer wieder so zu reizen? Doch Lu brauchte nicht lange zu überlegen, denn sie kannte die Antwort bereits: Er durchschaute sie ganz einfach. Genau genommen kannte er sie, und das für ihren Geschmack sogar schon viel zu gut; sie fühlte sich regelrecht entblößt vor ihm. Er kann in mir lesen wie in einem Buch!
Die Pause war vorbei, die Lichter erloschen wieder, und abermals hob sich der Bühnenvorhang. Und wieder einmal wurde Louisa von der Vorführung derart mitgerissen, dass sie Abercorn beinahe vergaß. Aber auch nur beinahe. Denn seine geheimnisvolle Ausstrahlung hielt sie hartnäckig weiter umfangen, daran änderten auch ihre Begeisterung und ihre Freude an der Aufführung nichts. Und wenn sie es sich recht überlegte, hatte seine Nähe sogar etwas Provokatives und verlieh der ganzen Situation eine gewisse Brisanz.
Als das Musical zu Ende war, klatschte Louisa vor Begeisterung laut in die Hände. Auch Abercorn applaudierte fleißig, woraufhin Louisa sich doch einmal argwöhnisch
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