Symphonie des Lebens
Vergangenheit wieder in Berührung kommen, auch wenn sie es nicht wollte und sich in ein neues Gesicht flüchtete.
Verbissen in den Ehrgeiz, aus eigener Kraft emporzusteigen, übte er weiter in dem kleinen, schwarz gekachelten Badezimmer, schrieb jeden dritten Tag einen langen Brief an Carola und nahm im Hafen, in verräucherten Spelunken, Verbindungen auf zu einem Fälscherring, der falsche Pässe aller Nationalitäten lieferte. Ein deutscher Paß wurde mit 3.000 Francs angeboten – Leclerc zahlte 200 Francs an und bekam dafür eine Adresse, an die er sich wenden sollte, wenn das neue Gesicht Carolas fertig war und er das Foto für den Paß abliefern konnte.
In einem der besten Herrenausstattungsgeschäfte Marseilles kaufte er einen Smoking und ließ sich für einen Galaabend einkleiden. Dreimal versuchte er, Carola telefonisch zu sprechen. Die Stationsschwester in der Lombard-Klinik stellte das Gespräch gar nicht durch mit dem Bemerken, Madame habe verboten – und sei nicht zu sprechen. So hörte Leclerc in diesen Tagen nichts von Carola, erfuhr nicht, wie es um sie stand, ob die Operationen schon begonnen hatten … er schrieb brav seine Briefe und bekam nie eine Antwort darauf.
Am Abend des Donani-Konzertes wartete er im Foyer, bis der Saal sich gefüllt hatte. Dann setzte er sich auf seinen Platz, ganz hinten in der vorletzten Reihe, vor einer Säule, kurz bevor die Lampen ausgingen und nur das Podium mit dem Orchester beleuchtet war.
Da sitzen sie, dachte er. Dort der dicke Marcel mit seinem Cello, und Hubert steht noch genau so verkrümmt an seiner Baßgeige wie früher. Jetzt kontrolliert der Erste Kapellmeister noch einmal die Geigenstimmung … arrogant wie immer, ein Fatzke, der sich vorkommt wie Donani II. Ach ja, und der arme Jules hat noch immer seinen Schnupfen. Seit zwei Jahren tropft ihm die Nase, und kein Arzt kann diesen chronischen Schnupfen heilen. Da er an der Kesselpauke sitzt, fällt das nicht auf … er hat immer Zeit genug, sich die Nase zu trocknen, bevor er auf seinen Kalbsfellen loshämmert.
Jean Leclerc spürte eine Traurigkeit in sich aufsteigen, gegen die er vergebens ankämpfte. Er starrte auf seinen Platz in der letzten Reihe der ersten Geigen. Dort saß jetzt ein neuer Geiger, jung wie er, sichtlich nervös, schon im voraus schwitzend. Er sah bleich aus, als habe er vor Angst den Durchfall bekommen.
So war es auch bei mir, dachte Leclerc. Als ich zum erstenmal Donani gegenübersaß, fühlte ich mein Herz nicht mehr. Es hing mir irgendwo in der Kehle und war zu einem erstickenden Kloß geworden. Aber später gibt sich das … alles wird Routine, wird Gewohnheit, wird einfach Beruf –
Die Tür des Künstlerzimmers sprang auf. Bernd Donani betrat das Podium. Die zweitausend Zuhörer applaudierten. Leclerc beugte sich vor, als sei er plötzlich kurzsichtig geworden, und starrte den großen, weißhaarigen Mann an.
Donani verbeugte sich knapp. Sein Gesicht war ernst und schmal, das berühmte Lächeln fehlte. Fast traurig blickte er über die zweitausend Köpfe, das Kinn war vorgeschoben, als müsse er sich diese Verbeugung abtrotzen.
Leclerc atmete tief auf. Statt des weißen Taschentuches in der Ziertasche des Fracks trug Donani ein schwarzes Tuch. Ein sichtbarer Ausdruck seiner Trauer. Leclerc schloß die Augen. Heiß stieg es in ihm hoch und erzeugte das Gefühl, als explodiere im nächsten Moment sein Kopf.
Mit verkrampften Fingern und weichen Knien stand er auf und drückte sich aus seiner Reihe hinaus zum Ausgang. Die Tür schloß sich hinter ihm, als die ersten Töne, die Klage der unendlichen Weite der Steppe aufklangen. Der Türschließer eilte auf ihn zu.
»Ist Ihnen nicht wohl, Monsieur?« fragte er besorgt.
Leclerc schüttelte den Kopf. »Ein Schwächeanfall … nichts Ernstes … er geht schon vorbei …«
Er verließ das Konzerthaus und fuhr zurück zum Hotel.
So wird es nie gehen, dachte er, als er im dunklen Zimmer saß und aufs Meer starrte. Mit solchen Skrupeln vermauert man sich den Weg. Zum Teufel, was geht mich ein Donani an? Ich bin Jean Leclerc, und allein mein Leben ist wichtig.
Aber sosehr er sich bemühte, so zu denken … es blieb an der Oberfläche. Im Inneren sah er immer noch das traurige Gesicht des großen Donani, der nicht mehr lächeln konnte …
*
Der Morgen, an dem Dr. René Lombard mit der ersten Operation beginnen wollte, war ein sonniger Tag. Carola hatte tief und lange geschlafen und fühlte sich frisch und erholt. Dr. Lombard
Weitere Kostenlose Bücher