Symphonie des Lebens
selbst belogen. Er ist ein großer Junge, habe ich zu mir gesagt. Ein lieber Junge. Ein leichtsinniger Junge. Aber gerade dieser Leichtsinn ist es, der ihn so liebenswert macht.
Sie legte wie in einem maßlosen Erstaunen die Hände gegen den Mund. Mein Gott, das habe ich gedacht. Das habe ich noch vor ein paar Tagen gedacht. Ich bin mit geschlossenen Augen umhergegangen und war glücklich, wenn ich nur fühlen durfte. Ich war blind, weil ich nicht sehen wollte … aus Angst, das zu erkennen, was jetzt nicht mehr zu verleugnen ist.
So saß sie die ganze Nacht und wartete auf die Rückkehr Jeans. Was sie sagen würde, wußte sie noch nicht. Es wird eine Entscheidung geben – das war das einzige, was für sie sicher war.
Jean kam am frühen Morgen heim. Sein Gesicht sah zerstört aus, entstellt und aufgedunsen. Er roch nach billigem Parfüm und Alkohol, eine Mischung, die Übelkeit erzeugte. Leicht schwankend lehnte er sich gegen die Tür und winkte Carola zu. Sie hockte im Sessel und starrte ihn stumm an.
»Bonjour, Chérie!« sagte er und entblößte bleckend die Zähne. »Gut geschlafen? Wie du siehst, hat Herrchen dich nicht vergessen … er ist wieder da.«
»Wo warst du?« fragte Carola steif.
Jean machte eine alles umfassende Armbewegung. Sein Gesicht glänzte. Der noch in seinem Körper kreisende Alkohol trieb ihm den Schweiß aus den Poren.
»Im achten Himmel!« rief er. »Den siebten hast du ja für dich reserviert! Aber im achten Himmel, das sag' ich dir, da herrscht eine Stimmung! Da blasen die Engelein auf Kognakflaschen! Du solltest mal aus dem siebten Himmel rauskommen und mit mir in den achten fliegen!«
»Du bist betrunken«, sagte Carola angewidert.
»Und wie! Ist trinken auch verboten?«
»Du benimmst dich wie ein unreifer Junge.«
»Bin ich das nicht?« Jean drehte sich mühsam um sich selbst und hielt sich dann wieder am Türrahmen fest. »Wer hat mich reif gemacht? Na? Wer will aus mir einen großen Mann machen? Mit Zehntausenden Francs? Wer denn? Meine kleine Chérie … mein teufelsschönes, ehrgeiziges Luder –«
Carola wandte sich ab. Sie erhob sich aus dem Sessel, trat ans Fenster und sah hinaus auf das in der Morgendämmerung wie aus Nebeln aufsteigende Meer.
»Du kannst von jetzt ab tun, was du willst!« sagte sie hart.
Jean schüttelte den Kopf, als käme er aus dem Wasser. Seine etwas glasigen Augen wurden plötzlich ernst; es war, als habe jemand einen Vorhang weggezogen, der die Gegenstände verzerrte. »Was heißt das?« fragte er mit klarer Stimme.
»Es ist aus.« Carola drehte sich langsam zu ihm um. »Warum siehst du mich so entgeistert an? Es ist aus. Ich wundere mich selbst, mit welcher Ruhe ich dieses Wort sagen kann. Ich müßte toben und schreien, ich müßte dir eine Liste dessen präsentieren, was ich deinetwegen aufgegeben habe –«
»Bitte –« Jean hob die Hand, sein Gesicht drückte Langeweile aus. »Keine Leporello-Arie. Habe ich das, was du geopfert hast, jemals von dir verlangt?«
»Nein.«
»Na also.« Jean schwankte durch das Zimmer und warf sich in einen der Sessel. Er legte die Beine auf den Rauchtisch und stützte den Kopf nach hinten gegen die Sessellehne. »Wir trennen uns also?«
»Ja –«, sagte Carola. Ihre Stimme klirrte fast vor Kälte.
»Du hast es leicht, ja zu sagen.« Jean betrachtete seine Fingernägel. »Du hast noch ein dickes Bankkonto, deinen Schmuck, na ja, und am Ende auch noch ein körperliches Kapital –«
»Schweig!« schrie Carola plötzlich. »Sprich nicht weiter – ich warne dich! Halt den Mund!«
Leclerc zuckte mit den Schultern. »Mich hast du aus der Bahn geworfen –«
»Was habe ich?« fragte Carola fast atemlos zurück. Sie senkte den Kopf. Das ist doch nicht möglich, dachte sie. Das kann er doch nicht ernst gemeint haben. Soviel Gemeinheit kann es doch gar nicht geben.
»Ich hatte eine gute Stellung. Ich war Geiger bei Bernd Donani. Das ist etwas, um das mich Hunderte Kollegen beneiden. Was bin ich jetzt?«
»Ein betrunkener Lump!« schrie Carola.
»Betrunken aus Kummer über mein verpfuschtes Leben! Ich bin aus meiner Bahn gerissen worden, man hat mich zu einem Hampelmann gemacht, ich bin ein Tierchen, das man mit ins Bett nimmt …«
»Red nicht weiter«, sagte Carola gefährlich leise. »Red nicht weiter –«
»Warum denn nicht? Tut es weh?« Er grinste breit und faltete die Hände über dem Bauch. »Das freut mich, Chérie. Weißt du, daß auch ich es satt habe?«
»Du hast alles in mir
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