Symphonie des Lebens
Möglichkeiten: Wegzugehen von Carola und damit einer ungewissen Zukunft ausgesetzt sein, oder bei ihr zu bleiben, sie immer wieder in den Nächten zu betören, so lange, bis sich eine Möglichkeit fand, aus diesen Fesseln wieder zu entweichen in einen anderen, noch nicht bestimmbaren Abschnitt des Lebens, in dem es sich ruhiger, aber mit gleicher Sorglosigkeit leben ließ.
Am Hafen setzte der Engländer ihn aus dem Wagen. Leclerc stand an der Kaimauer und starrte über die weißen Segel, die Motorjachten und das elegante Promenieren unter der Lichterfülle der Croisette. Ihm war weinerlich zumute, er fühlte sich hundeelend und war wütend.
Man sollte sich besaufen, dachte er. Regelrecht besaufen. Und abwarten, wie alles werden würde. Was blieb ihm anderes übrig? Es gab natürlich viele Wege, in ein normales Leben zurückzukehren. Man konnte wieder als Geiger in der letzten Reihe eines Orchesters sitzen, man konnte in Bars spielen, man konnte sich einem Reiseorchester anschließen – aber immer würde Carola bei ihm sein, die Frau, die seinetwegen ein reiches Leben weggeworfen hatte, so endgültig mit der Verwandlung ihres Gesichtes, daß es kein Zurück mehr gab.
Jean wich allen Problemen an diesem Abend aus. Er streifte durch das Hafenviertel von Cannes, in einer Kneipe am Segelhafen betrank er sich und lernte ein Mädchen kennen, das nach einem fragenden Blick gleich den Arm um seinen Nacken legte.
»Komm!« sagte er mürrisch. »Es ist doch alles am Ende!« Er steckte dem Mädchen 500 Francs in die Bluse, hakte sich bei ihr unter und ließ sich durch die Altstadtstraßen schleifen. Später lag er in einem Eisenbett, schlief röchelnd und zuckte im Traum mit den Beinen.
Es war merkwürdig … die Hafendirne Fifi Bareuge hatte Mitleid mit dem unbekannten, betrunkenen, schönen Jüngling, mehr Mitleid, als man mit 500 Francs kaufen kann. Sie ließ ihn bis gegen Morgen schlafen und warf ihn nicht aus dem Zimmer wie andere Kunden.
Das Schicksal ließ ihn nicht los – was er auch tat und wo er auch war … Jean Leclerc entrann nie den Frauen.
*
Carola hatte die ganze Nacht wach gesessen. Erst auf der Terrasse, über das Meer starrend und sich in wilder Verzweiflung quälend, dann im Wohnzimmer, zusammengeduckt in einem Sessel.
Sie konnte mit Gedanken und Entschlüssen ringen, sie wieder verwerfen, neue Anklagen erheben und auch diese wegwischen. Als sie damals in der Klinik des Dr. Lombard über sechs Wochen Zeit hatte, während der Verwandlung ihres Gesichtes von ihren Gedanken zu leben, war es nur Sehnsucht nach dem neuen Leben gewesen, nur Liebe zu Jean, nur eine irre Verblendung, wie sie es jetzt plötzlich nannte und vor dieser Erkenntnis schauderte. Geblieben war nun die Asche eines zu schnellen Brandes und das grauenhafte Wissen, ein Leben für ein Nichts weggeworfen zu haben. Ein Nichts, das Jean Leclerc hieß … ein junger Körper, ein Paar warme Lippen, eine weiche, streichelnde Hand, eine Reihe von sündigen Nächten, Versuche, zwei Schicksale auf dem Fundament des völligen Vergessens der Vergangenheit zu gestalten … eben ein Nichts.
Wogegen sich Carola in den zurückliegenden Monaten immer wieder gewehrt hatte, was sie in sich unterdrückte und vor dem sie – wenn sie merkte, daß ihr Wille versagte – in die Arme Jeans geflüchtet war, kam jetzt übermächtig in ihr hoch, und es gab nichts mehr, was sich ihm entgegenstemmen konnte: der Gedanke an Donani und an ihre Kinder.
Es war ihr, als zerrisse das Herz. Die Einsamkeit, die sie umgab, das Haus oben auf dem Felsen, um sich das Meer und die Klippen, das nicht mehr durch Selbstbetrug zu überdeckende Wissen, in Jean Leclerc eine neue Welt gesehen zu haben, wo er in Wahrheit nur eine Handvoll Staub war, diese grausame Ernüchterung war so schrecklich, daß sie meinte, der Atem versage ihr. Sie sprang auf, rannte hinaus auf die Terrasse, beugte sich über das Geländer und starrte wieder hinunter auf das um die Klippen kochende Meer.
Hinab, dachte sie. Wie einfach das alles ist. Ein Schwung über das Geländer, ein sekundenschneller Fall, zwei Atemzüge lang, und dann war Ruhe … endlich Ruhe …
Sie stand auf der Terrasse, bis sie zu frieren begann. Warum soll ich hinabspringen, dachte sie. Vielleicht wartet Jean nur darauf. Er wird nach außen erschüttert sein, aber im Innern aufatmen.
Sie zog die Schultern hoch und ging ins Haus zurück. Wie gut ich ihn kenne, dachte sie weiter. Ich habe es nie gestanden, ich habe mich immer
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