Symphonie des Lebens
Hundertfrancsschein ins Gesicht. Sie stand nahe vor ihm, bei dem Wort sechs trennte sie kein halber Meter mehr, und auch die Scheine flatterten nicht mehr um ihn herum, sondern sie lagen jetzt auf der Handfläche Carolas, und jedes »hier! hier!« war ein Klatschen auf seine Wangen, war eine Ohrfeige mit einem Geldschein.
Jean rührte sich nicht. Seine Augen blickten an Carola vorbei, er ertrug die Schläge und zählte mit. Tausend Francs, dachte er. Tausenddreihundert … vierhundert … fünfhundert … Sie hat noch Geld in der Hand, sie schreit noch immer, sie schlägt noch immer zu … siebenhundert … neunhundert … zweitausend …
Er nahm den Kopf zurück, die zuschlagende Hand zischte ins Leere.
»Es waren mehr Nächte!« schrie Carola. Sie zitterte am ganzen Körper wie in einem Schüttelfrost. »Ich will keine Schulden hinterlassen. Die Sünde ist teuer! Ich will bezahlen! Seit wann nimmst du kein Geld mehr?« Sie kam Jean, der einen Schritt zurückgewichen war, wieder nach und schlug erneut mit einem Geldschein in der Handfläche zu.
»Einundzwanzig! Und noch eine Nacht! Zweiundzwanzig! Du kannst reich werden, mein Liebling! Du kannst ein Krösus werden! Du kannst dich ausruhen auf deinem schwer erarbeiteten Vermögen! Vierundzwanzig! Fünfundzwanzig! Heb nicht die Hand, du Schuft! Ich zahle in bar! Hier … hier …«
Sie schleuderte den Rest des Geldpackens Jean ins Gesicht und taumelte dann zurück. Erschöpft lehnte sie sich an die Wand und preßte die Hände vor ihre Augen.
Jean Leclerc strich sich mit einer eleganten Bewegung die in die Stirn gefallenen Locken zurück. Seine Fingerspitzen fuhren tastend über die geschlagene Wange. Sie ist geschwollen, dachte er. Aber man kann sie kühlen. Das ist das kleinere Übel. Er sah sich um und lächelte spöttisch. Er stand inmitten einer Wiese von Geldscheinen, auf seinen Schuhen lag das Geld, an seinem Rock hingen die Scheine.
Ohne Hast bückte er sich und sammelte die Banknoten auf. Er schob sogar die Sessel zur Seite, um die weggeflatterten Scheine zu suchen. Dann ordnete er sie auf dem Rauchtisch, klopfte sie zu einem Block und steckte sie in die Rocktasche.
»Merci, Madame –«, sagte er höflich. »Eine Quittung brauchen Sie wohl nicht –«
Er verbeugte sich, bückte sich noch einmal, weil er hundert Francs hinter einer Blumenvase liegen sah, zögerte und legte dann den Geldschein auf den Tisch zurück.
»Ein Beitrag für die Blumen zu diesem Festtag, Madame«, sagte er voll beißender Ironie. »Ich schlage ein großes Gebinde aus vielfarbigen Stiefmütterchen vor –«
Carola hatte die Hände nicht von den Augen genommen. Erst, als die Tür klappte, als Jean Leclerc das Zimmer verlassen hatte, ließ sie die Arme sinken. Ein heißer Schmerz durchzuckte sie plötzlich, ein wilder Krampf, sie preßte die Hände gegen die Brust und versuchte, einen der Sessel zu erreichen. Mein Herz, dachte sie. O Gott, mein Herz –
Sie spürte, wie sie zusammensank, sie sah sich niederfallen, sie schloß entsetzt die Augen, als das Blumenmuster des Teppichs auf sie zukam, als presse jemand ein geblümtes Tuch auf ihren Mund … dann lag sie mitten im Zimmer, die Decke fiel auf sie herab, das Haus schien sich von den Felsen zu lösen und wegzufliegen. Sie wollte schreien, aber sie hatte keine Stimme mehr – und dann wurde es dunkel um sie, die rote Sonne explodierte.
Das Ende, dachte sie noch. So ist das Ende –
Während Carola ohnmächtig umsank, verließ Jean Leclerc fast fluchtartig das weiße Haus auf dem Felsen. Er nahm nichts mit, nur seinen kleinen Koffer aus Krokodilleder. Er war ein erster Ausweis von Wohlstand, auf den er nicht verzichten wollte.
*
Den ganzen Vormittag hatte Jean genug zu tun, sich an seine neue Situation zu gewöhnen und sich auf sie einzustellen. Kaum daß er das Haus verlassen hatte, setzte er sich auf die steile Steintreppe, die zur Straße hinabführte, und holte die Geldscheine wieder aus der Tasche. Zählend ließ er sie zwischen Daumen und Zeigefinger durchlaufen. Dreitausendsechshundert Francs! Genug, um das kurze Niemandsland zwischen Vergangenheit und Zukunft zu überwinden?
Er rechnete schnell, was er brauchte. Einen neuen Anzug, einen Smoking, dazu die nötige Wäsche, die Schuhe, einen Abendmantel, eine Woche lang ein Zimmer in einem guten Hotel – 3.600 Francs sind da nicht allzuviel, im Gegenteil, Beeilung tat not, das Vakuum seines Lebens mit neuem, erquickendem Sauerstoff zu füllen.
Mit dem Bus fuhr
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