syrenka
rutschigen, von Algen bewachsenen Steinbrocken und machte sich an die Aufgabe, die verschiedenen Arten der Krebstiere am Wassersaum und ihr mengenmäßiges Auftreten festzuhalten. Er arbeitete einige Stunden, bis das Licht grau wurde und das Meer seine Farbe verlor.
Gerade lag er noch auf dem Bauch, den Kopf über einen Felsbrocken gereckt, als ihm plötzlich etwas ins Auge stach: Gleich unter ihm schwamm eine riesige Schildkröte im Wasser. Durch die Bewegung ihrer Flossen driftete ihr Körper von einer Seite zur anderen, während sie mit ihrem schnabelähnlichen Maul eine Muschel von Ezras Granitblock trennte.
»Eine Schildkröte, so weit nördlich! Wie ungewöhnlich …«,flüsterte Ezra. Dann machte er sich schnell daran, das Tier zu zeichnen.
Er skizzierte gerade die schwarzen Augen der Schildkröte mit ihren dicken Lidern, als plötzlich, von einer Trübung umgeben, eine verschwommene Gestalt aus der Tiefe auftauchte und die Schildkröte um die Mitte ihres Körpers fasste. Die Gestalt war eine Frau – bleich und durchscheinend wie ein Gespenst, mit wogendem weißem Haar. Ezra erschrak und ließ seinen Stift ins Wasser fallen. Jetzt wandte die Frau ihm ihr Gesicht zu. Ihre Augen waren übergroß, hellgrün, mit horizontalen, spaltförmigen Pupillen, die an die Augen eines Oktopus erinnerten.
Die Schildkröte reckte verzweifelt den Kopf, um zuzubeißen. Aber die Frau wandte sich wieder ab und zog sie mit sich in die Tiefe hinab.
»Komm zurück!«, rief Ezra, ohne auch nur einen Moment zu zögern.
Als ihr Körper in den Fluten versank, hatte Ezra einen Blick auf ihren Fischschwanz erhascht. Er war länger und bedeutend schlanker, als er in jedem schriftlichen Zeugnis jemals beschrieben worden war, etwa fünfmal so lang wie ihr Körper. Von den Hüften abwärts war sie nicht mit Schuppen bedeckt, sondern mit panzerartigen Knochenplatten, wie ein Stör. Ihre Schwanzflosse ähnelte eher der eines Delfins als eines Fisches – muskulös, mit waagerecht abgespreizten Enden, der sogenannten Fluke. Ezras Herz schlug heftig, während sich sein Kopf verzweifelt zu merken versuchte, was er gerade gesehen hatte.
Mit zitternden Händen suchte er in seiner Manteltasche nach einem weiteren Stift. Sobald er einen kleinen Stummel gefunden hatte, atmete er tief durch, um sich zu beruhigen. Dann beugteer sich über sein Journal und begann seine Beobachtung aufzuschreiben und das Bild, das ihm noch vor Augen stand, auf Papier zu bannen. Tränen traten ihm in die Augen. Sie rannen über seinen Nasenrücken und tropften auf seine Zeichnung. Er wischte sie hastig weg.
Eine ganze Stunde brachte er mit dieser Arbeit zu, bis er so gut wie kein Licht mehr hatte. Die Nacht war klar und eine gestochen scharfe Mondsichel stand am Himmel, dennoch würde es nicht einfach sein, zum Strand zurückzugelangen. Es war ihm egal. Zur Not würde er auf allen vieren über die Buhne kriechen. Er schlug sein Journal zu.
»Was hast du da gemacht?«, klang eine leise Stimme vom Wasser herauf.
Ezra fühlte ein Prickeln auf der Kopfhaut. Einen Moment lang brachte er kein Wort hervor, so gern er auch wollte. War sie etwa die ganze Zeit so nah gewesen?
»Du bist zurückgekommen.« Seine Stimme versagte.
»In tausend Jahren hat sonst nur noch einer mich je gerufen«, antwortete sie.
Tausend Jahre . Ezra drehte den Kopf in die Richtung, aus der ihre Stimme kam, und konnte schwach ihre Umrisse erkennen. Ihre verschränkten Arme ruhten auf einem der Granitblöcke. Das Kinn hatte sie auf eine Hand gestützt.
»Warum kam Wasser aus deinen Augen?«, wollte sie wissen.
»Das waren Tränen. Sie können große Trauer bedeuten oder auch große Freude.« Seine Augen wurden wieder feucht.
»Was ist es gerade bei dir?«
Ezra musste lachen. »Dieser Augenblick zählt zu den glücklichsten Momenten meines Lebens.«
Sie schwieg. Er wartete, versuchte, Ruhe zu bewahren, auch wenn er wie elektrisiert war.
»Was hast du vorhin mit solcher Sorgfalt gemacht?«
»Ich habe mir Notizen in meinem Journal gemacht, meine Beobachtungen festgehalten.«
»Über mich?«
»Ja. Und davor über die Muscheln und Krabben ... und über die Schildkröte. Was hast du mit ihr gemacht?«
»Ich habe sie gegessen. Was hast du vor mit deinem Journal?«
»Ich weiß es noch nicht«, antwortete Ezra aufrichtig. »Ich befasse mich mit der Geschichte der ...« – solange sie sich nur eine Armeslänge von ihm entfernt befand, konnte er ja wohl schlecht von Fabelwesen und Legenden
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