syrenka
Sandstreifen, der vor der Klippe noch sichtbar war, war dunkel und glänzte feucht.
Peter stand nun neben ihr. »Hör mal«, sagte er leise und legte seine Hand auf ihre Schulter, bis sie sich ihm zuwandte und ihn ansah. »Was ich dir neulich Abend eigentlich hätte sagen sollen: dass du immer mit allem zu mir kommen kannst.«
»Danke. Das weiß ich.« Sie konnte sich kaum auf ihn konzentrieren. »Guck mal! Hochwasser. Das war´s mit unserem Spaziergang.«
»Technisch gesehen haben wir immer noch Flut. Hochwasser ist erst um 17:05 Uhr. Wollen wir mit den Füßen durchs Wasser laufen?«
»Du weißt, wann die Gezeiten sind?«
Er sah sie über seine Brille hinweg an. »Falls du dich erinnerst: Ich arbeite auf einem Boot.«
»Heute hast du aber nicht gearbeitet.«
Er zuckte die Schultern und begann die Stufen hinabzugehen. »Die Tabelle klebt auf unserem Kühlschrank.«
Am Fuß der Treppe zog Peter seine Schuhe aus und krempelte seine Hose hoch, während Hester aus ihren Sandalen schlüpfte. Peter öffnete das Tor und sie wateten bis zu den Knien ins kühle Wasser. Eine sanfte Brise wehte. In gleichbleibendem Rhythmus schwappten kleine Wellen an den Strand. Der Widerstand des Wassers erschwerte den Gang, bremste ihre Schritte. Hester wurde ruhiger. Strandläufer folgten dem Saum der Wellen mit kleinen, ruckartigen Schritten und bohrten am Rand der Klippen ihre Schnäbel in den feuchten Sand.
»Die Gezeiten wechseln etwa alle zwölfeinhalb Stunden«, erklärte Peter. »Dadurch bewegen sie sich innerhalb von vierzehn, fünfzehn Tagen einmal rund um die Uhr. Das Ganze ist ziemlich kompliziert – es richtet sich nach der Drehung der Erde und dem Stand des Mondes und der Sonne ... und sogar nach der Struktur des Erdbodens im Küstenbereich. Eine Gezeitentabelle ist das einzig Zuverlässige.«
Hester sah ein Stück voraus, wo die Aufschüttung begann. Die Höhle lag möglicherweise noch ein ganzes Ende weiter – bei Hochwasser sah einfach alles gleich aus.
»Diese Höhle in der Aufschüttung, ist die jetzt schon überflutet?«, fragte sie.
Peter schüttelte den Kopf.
»Warst du schon mal da drin?«
»Natürlich. Als ich mal mit unserem kleinen Ruderboot unterwegs war. Es war gerade Ebbe, darum habe ich das Boot an Land gezogen und mich dort ein bisschen umgesehen. Und du? Warst du auch schon mal dort?«
»Ich? Nein!« Hester schüttelte den Kopf.
»Ich weiß eigentlich gar nicht, was daran so interessant sein soll. Es ist ziemlich dunkel dort drinnen und ziemlich glitschig. Ein paar Kids haben Gras geraucht, ich habe kaum Luft bekommen ...«
Hester hörte schon nicht mehr zu. Die Antwort, die sie Peter gegeben hatte, hatte sie selbst überrascht. Warum hatte sie gelogen und gesagt, sie sei noch nie in der Höhle gewesen? Die ausdrucksvolle Stimme und die klugen Worte des Fremden klangen ihr wieder durch den Kopf. Sie erinnerte sich an ihre anfängliche Wut, dass er sich so hartherzig gezeigt hatte, und wie rasch erdann aber sympathisch geworden war. Als sie schließlich ging, hatte Hester das Gefühl gehabt, er hätte sich gern weiter mit ihr unterhalten. Und noch mehr: Wenn sie wegen der Party, wegen Joeys aggressiver Anmache und wegen der Tatsache, dass die Stimme einem Wildfremden gehörte, nicht so irritiert gewesen wäre, hätte sie durchaus in Versuchung kommen können, zu bleiben und sich weiter mit ihm zu unterhalten.
Sie sah auf die Bucht hinaus. Es war nicht das erste Mal, dass sie vor Peter etwas geheim hielt. Noch nie hatte sie ihm etwas über ihre Familiengeschichte anvertrauen können und über ihre ganz persönliche Angst davor, dass in ihren Genen ein medizinisches Problem lauerte. Peter wusste zwar, dass Hesters Mutter nach der Geburt ihrer Tochter gestorben war und die Ärzte nie einen Grund dafür gefunden hatten – aber das war auch schon alles.
Bereits vor Susans Tod waren ihre Familien gut miteinander befreundet gewesen. Und nachdem sie gestorben war, waren Peters Eltern da gewesen, nicht nur für Malcolm, sondern auch für den alten Großvater, der seine Tochter auf dieselbe grauenvolle Weise verloren hatte wie damals seine Frau und der, durch den Kummer geschwächt, schließlich an Leukämie starb. Um dies alles hatten die Angelns sich gekümmert, auch um Hester. Und zwei Jahre später war Dave Angeln Malcolms Trauzeuge gewesen, als er Nancy heiratete, Hesters Stiefmutter. Und wieder ein Jahr später war der kleine Sam auf die Welt gekommen, und Hester war Nancy wochenlang nicht
Weitere Kostenlose Bücher