syrenka
losließ, kippte sie nach vorn oder nach hinten.
Bevor Adeline wusste, wie ihr geschah, stand Eleanor neben ihr. »Du dummes Kind!«, zischte sie. Sie riss die Puppe an sich und schleuderte sie ein gehöriges Stück weit weg. Adeline schnappte nach Luft und wollte loslaufen, um die Puppe zurückzuholen.
»Wehe!«, zischte Eleanor zwischen den Zähnen hervor, und Adeline blieb wie angewurzelt stehen und starrte ihre Tante an. Ein kleiner Puppenschuh lag noch in Eleanors Hand, und ohne Adeline aus den Augen zu lassen, warf sie ihn der Puppe hinterher. Dann reichte sie Adeline die kleine Marijn und Adeline nahm das Baby mit Tränen in den Augen entgegen.
»Dies ist ein richtiges, lebendiges Baby und keine alberne Puppe. Verstanden?«
»Ja, Tante Ellie.« Adelines Stimme bebte. Das Baby war schwer.
»Dass dem Kind nichts geschieht, solange ich in der Kirche bin!«
»Nein, Tante Ellie.«
»Du wirst Marijn mit deinem Leben beschützen, ist das klar?«
»Ganz bestimmt, Tante Ellie. Versprochen.«
»Und wenn ich zurückkomme und feststelle, dass deine geliebte Puppe sich auch nur um ein Haar von der Stelle bewegt hat, werde ich sie in Stücke reißen.«
Adeline sah zu ihrer Puppe hinüber. Sie lag mit dem Gesicht nach unten auf dem Boden. Ihre Locken waren zerzaust und ein Bein war abgeknickt und lag unter ihrem Körper. Adeline nickte, denn ihr Hals war plötzlich zu eng und zu rau, um sprechen zu können.
Eleanor stürmte in die Kirche, um die Welt nach Olafs Tod wieder ins Lot zu bringen.
Am ganzen Körper zitternd, lief Hester über den Bibliotheksparkplatz. Noch nie hatte sie etwas gestohlen und noch nie so dreist gelogen. Was war nur in sie gefahren? Sie durchwühlte ihre Hosentaschen nach den Autoschlüsseln und verlor dabei ein Stück Papier. Sie hob es auf, stieg rasch ins Auto, legte den Kopf auf das Steuer und atmete tief durch. Aber weder kamen die Bibliothekare aus dem Gebäude gerannt, um sie zu suchen, noch bretterten Streifenwagen auf den Parkplatz. Hester faltete den Zettel in ihren Händen auseinander. Es war der grobe Lageplan, den sie sich von den Gräbern von Nellie Burroughs und Grace Keep angefertigt hatte. Diese Gräber, an denen sie als Kind beim Spielen mit Linnie sicherlich Hunderte Male vorbeigekommen war, wollte sie sich genauer ansehen. Und danach musste sie unbedingt zu Ezra.
Sie fuhr zurück zur Plimoth Plantation und brachte ihren Job lustlos zu Ende. Und sechs Minuten nach Feierabend saß sie schon wieder im Auto.
Auf der Fahrt zum Friedhof kaufte sie bei einem Blumengeschäft drei Töpfe mit Veilchen. Anschließend parkte sie auf dem Parkplatz des Burial Hill. Sie eilte die Betonstufen hinauf zum Obelisken, der als Denkmal für William Bradford aufgestellt worden war. Nellies Grab lag südwestlich davon. Der Stein bestand aus Kalkstein und die Inschrift war kaum zu entziffern.
NELLIE BURROUGHS
1892 – 1916
S CHAU HER, UND FASSUNGSLOS WIRST DU ERSEHN,
DASS SELBST DER S CHÖPFUNG SCHÖNSTE K RONE
IN KALTEM T ODE MUSST’ VERGEHN.
E RST M ITTAG ERBLÜHTE SIE FROHGEMUT,
AM A BEND IHR K ÖRPER IM G RABE RUHT.
Hester küsste ihre Fingerspitzen und drückte sie auf Nellies Namen. Sie bückte sich, riss ein wenig Gras und Unkraut am Fuß des Grabsteins aus und stellte einen Veilchentopf davor. Dann stand sie wieder auf. Sie sah sich um und versuchte, der Frau, die längst tot im Grab lag, Augen und Ohren zu sein. Sie holte Atem und sog einen tiefen Zug Meeresluft ein – für Nellie. Dann lief sie zu John Howlands Ruhestätte und fand ein kleines Stück weiter östlich davon das Grab von Grace.
GRACE KEEP ( GEB. B URROUGHS )
31. März 1916 – 6. Oktober 1941
G RÜN WIE DER B AUM AM M EERESSTRAND,
SO GRÜN IM FRISCHEN B LATTGEWAND.
D ER J UGEND K RÄFTE SAH ICH BLÜHN,
ICH SCHRITT VORÜBER – SIE WAREN DAHIN.
Hester spürte einen Kloß im Hals. Tränen stiegen ihr in die Augen, aber sie schluckte sie herunter. Wieder machte sie ein bisschen Platz zwischen dem Gras und dem Unkraut am Fuß des Grabsteins und stellte den zweiten Veilchentopf ab. Schließlich ging sie mit ihrem letzten Blumentopf den Hügel zum Grab der Crottys hinauf, zu Bartholomew und seinen beiden Ehefrauen. Sie betrachtete Marijns Inschrift, und unwillkürlich fasste sie nach ihrer Kette – der Kette, die Marijn vor mehr als hundert Jahren um ihren eigenen Hals getragen haben musste. Wie komisch die Welt doch war: dass eine Kette ewig existieren konnte, während ein menschliches Leben, das so viel
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