System Neustart

war das der erste kulturelle Unterschied, der Milgrim auffiel, wenn er hier ankam. Den Engländern mussten die amerikanischen Toiletten furchtbar öffentlich vorkommen. Der Mann bedeutete ihm, in einen leeren Toilettenraum zu treten. Dann warf er einen Blick in die Richtung, aus der sie gekommen waren, folgte Milgrim rasch hinein, schloss die Tür hinter sich und verriegelte sie. Er reichte Milgrim eine Plastiktüte, in der sich ein Probenbecher mit einem blauen Deckel befand. Milgrim stellte die rote Pappröhre vorsichtig in einer Ecke ab.
    Er wusste, dass sie dazu verpflichtet waren, zuzuschauen. Sonst könnte er womöglich den Probenbecher austauschen und den sauberen Urin von jemand anderem abgeben. Oder sogar, wie er in New Yorker Boulevardzeitungen gelesen hatte, eine spezielle Penisprothese benutzen.
    Milgrim nahm den Becher aus dem Beutel, riss die Papierversiegelung ab, entfernte den blauen Deckel und füllte ihn »ohne viel Aufhebens«, wie man so schön sagt. Dann verschloss er ihn wieder, steckte ihn in den Beutel und reichte ihn dem Mann, und zwar so, dass dieser nicht mit der Wärme des frischen Urins in Berührung kam. Damit hatte er inzwischen eine gewisse Erfahrung. Der Mann ließ die Probe in eine kleine braune Papiertüte fallen, die er in seine Manteltasche stopfte. Milgrim drehte sich um und urinierte fertig, während der Mann die Tür entriegelte und hinaustrat.
    Als Milgrim ihm schließlich folgte, wusch sich der Mann gerade die Hände; die Neonlampen spiegelten sich in der beeindruckenden Wölbung seines Schädels.
    »Wie ist das Wetter?«, fragte Milgrim und nahm sich etwas Seife aus einem automatischen Spender. Die Pappröhre hatte er auf einem kalkfleckigen Sims aus Granitimitat abgestellt.
    »Es regnet«, sagte der Mann und trocknete sich die Hände ab.
    Als Milgrim sich die Hände gewaschen und abgetrocknet hatte, be nutzte er die feuchten Papierhandtücher, um den Plastikdeckel an der Unterseite der Röhre abzuwischen.
    »Wohin fahren wir?«
    »Soho«, erwiderte der Mann.
    Milgrim folgte ihm nach draußen, seine Reisetasche über eine Schulter gehängt, die Röhre unter den anderen Arm geklemmt. In dem Moment fiel ihm wieder das Neo ein. Als er es einschaltete, begann es sofort zu läuten.

5. Dünn gesät
    Nachdem sie von ihrem Stuhl aus zugeschaut hatte, wie er, den Kragen seines Mantels hochgeschlagen, schließlich die Treppe zum Foyer des Cabinet hinuntergestiegen war, lehnte sie den Kopf gegen den glatten Brokat und bestaunte die gewundenen Lanzen der Narwalstoßzähne in ihrem verzierten Rahmen.
    Schließlich setzte sie sich auf und bestellte einen Milchkaffee - eine Tasse, keine Kanne. Die Frühstücksgäste waren weitgehend gegangen, bis auf zwei russische Männer in dunklen Anzügen, die wie Statisten aus einem Cronenberg-Film aussahen.
    Sie holte ihr iPhone hervor und googelte »Gabriel Hounds«.
    Bis ihr Kaffee serviert wurde, hatte sie herausgefunden, dass The Gabriel Hounds der Titel eines Romans von Mary Stewart war, und außerdem der Name wenigstens einer CD und mindestens einer Band.
    Fast jeder Begriff war bereits einmal der Name einer CD oder einer Band gewesen. Aus diesem Grund hatten Bands in den letzten zwanzig Jahren meist auch so wenig einprägsame Namen gehabt, fast als wären sie stolz darauf.
    Aber die ursprünglichen Gabriel Hounds, die Hunde Annwns, gehörten der Sagenwelt an. Die Menschen hörten, wie sie in stürmischen Nächten leise die Lüfte durcheilten. Wie bei der »Wilden Jagd«. Das war eindeutig Inchmales Revier, und es gab sogar noch seltsamere Varianten. Manchmal hatten die Hunde Menschenköpfe oder die Köpfe von Kleinkindern. Das hing mit dem Glauben zusammen, dass die Hunde Annwns die Seelen toter Kinder jagten, die nicht getauft worden waren. Christliche Vorstellungen, die vermutlich heidnischen Mythen aufgepfropft worden waren. Ursprünglich hießen diese Hunde offenbar Ratchets, ein altertümliches Wort für Fährtensucher. Gabriel Ratchets. Manchmal auch »gabble ratchets«. Inchmale hätte seine helle Freunde daran. Er würde sofort die richtige Band für diesen Namen finden.
    »Das wurde für Sie abgegeben, Miss Henry.« Die junge Italienerin reichte ihr eine Tragetasche aus Hochglanzpapier, gelb und ohne Aufdruck.
    »Vielen Dank.« Hollis legte das iPhone beiseite und nahm die Tasche entgegen. Sie war mit Heftklammern verschlossen worden, und vor ihrem geistigen Auge sah Hollis den riesigen Messingtacker, der auf dem pornographischen