System Neustart
schattenhaften Gestalt, die er mit den Farben von US-amerikanischen Werbegrafiken aus den Fünfzigerjahren assoziierte. Irgendwie dreist.
Er vermisste seine Verhaltenstherapeutin. Es war eine große Freude gewesen, mit einer so wunderbar gebildeten Frau Russisch zu sprechen. Er konnte sich nicht vorstellen, wie er diese Unterhaltungen auf Englisch hätte führen sollen.
Acht Monate war er in der Klinik gewesen, länger als alle anderen Patienten. Wenn sich die Gelegenheit geboten hatte, hatten sich diese oft hinter vorgehaltener Hand nach dem Namen seiner Firma erkundigt. Anfangs hatte Milgrim verschiedene Antworten gegeben, dabei jedoch immer irgendeine Kultmarke aus seiner Jugend genannt: Coca-Cola, General Motors, Kodak. Dann hatten sie meist die Augen aufgerissen. Am Ende seines Aufenthalts war er zu Enron übergegangen. Da hatten sie eher die Stirn gerunzelt. Das kam zum Teil daher, dass seine Therapeutin ihn aufgefordert hatte, sich im Internet mit den Ereignissen des vergangenen Jahrzehnts vertraut zu machen. Wie sie sehr richtig festgestellt hatte, hatte er die nämlich allesamt verpasst.
Er träumt, dass er sich in einem hohen weißen Raum befindet, der Boden aus gekalkter Eiche. Hohe Fenster. Dahinter rieselt Schnee vom Himmel. Die Welt draußen ist vollkommen still und ohne Tiefe. Es herrscht diffuses Licht.
» Wo haben Sie Russisch gelernt, Mr. Milgrim?« »In Columbia. An der Universität. «
Ihr weißes Gesicht. Das mattschwarze Haar in der Mitte gescheitelt und streng zurückgebunden.
»Sie beschreiben die Situation, in der Sie sich vor Ihrem Klinikaufenthalt befunden haben, wie eine Gefangenschaft. Das war nach der Columbia?«
»Ja.«
»Wie, würden Sie sagen, unterscheidet sich Ihre derzeitige Situation davon?«
»Sie meinen, ob ich sie auch als Gefangenschaft betrachte?« »Ja.«
»Nicht auf dieselbe Weise. «
»Verstehen Sie, warum Ihr Arbeitgeber die beträchtlichen Kosten für Ihre Behandlung hier übernimmt? »Nein. Sie etwa?«
»Durchaus nicht, nein. Ist Ihnen klar, was in meinem Beruf mit der ärztlichen Schweigepflicht gemeint ist?«
»Dass Sie niemandem weitererzählen dürfen, was ich Ihnen sage?« »Richtig. Können Sie sich vorstellen, dass ich das tun würde?« »Ich weiß nicht.«
»Dann lassen Sie mich Ihnen versichern, dass ich es nicht tun werde. Als ich mich dazu bereit erklärt habe, hierherzukommen und mit Ihnen zu arbeiten, habe ich das absolut klargestellt. Ich bin für Sie da, Mr. Milgrim. Nicht für Ihren Arbeitgeber. «
»Das ist gut so.«
»Aber weil ich für Sie da bin, Mr. Milgrim, mache ich mir auch Gedanken um Sie. Es ist so, als würden Sie neu geboren werden. Verstehen Sie?«
»Nein. «
»Als Sie hierhergebracht wurden, waren Sie unvollständig. Inzwischen hat sich dieser Zustand etwas gebessert, aber Ihre Rehabilitation ist notwendigerweise ein komplexer Prozess. Wenn Sie sehr viel Glück haben, wird er für den Rest Ihres Lebens andauern. ›Rehabilitation‹ ist vielleicht ein irreführender Begriff. Natürlich gewinnen Sie einige der früheren Aspekte Ihrer Persönlichkeit zurück, aber viel wichtiger sind die Dinge, die Sie vorher nicht besessen haben. Grundlegende Aspekte der Entwicklung. In bestimmter Hinsicht sind Sie verkümmert. Nun bietet sich Ihnen die Gelegenheit, sich neu zu erschaffen. «
»Aber das ist doch gut, oder?«
»Gut, ja. Aber nicht immer angenehm.«
In Heathrow wurde er von einem großgewachsenen Schwarzen mit glattrasiertem Schädel erwartet, der ein Klemmbrett gegen die Brust gedrückt hielt. Darauf hatte jemand mit einem roten Filzschreiber das Wort »mILgRIm« geschrieben.
»Milgrim«, sagte Milgrim.
»Urintest«, sagte der Mann. »Hier entlang.«
Wenn er sich geweigert hätte, sich stichprobenartigen Untersuchungen zu unterziehen, hätten sie ihn nicht eingestellt. Das hatten sie ihm von Anfang an deutlich gemacht. Es hätte ihn allerdings nicht so sehr gestört, wenn sie sich nicht immer die unpassendsten Augenblicke aussuchen würden. Aber wahrscheinlich war das auch der Sinn des Ganzen.
Der Mann entfernte Milgrims Namen von dem Klemmbrett, knüllte das Papier zusammen und stopfte es in seinen schwarzen Mantel, während er ihn zu einer öffentlichen Toilette führte.
»Hier hinein bitte.« Er ging rasch an einer Reihe typisch britischer Toilettenhöhlen entlang, die ihren Benutzern das größtmögliche Maß an Privatsphäre bieten sollten. Es waren kleine, schmale Besenkammern mit echten Türen. Normalerweise
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