System Neustart
Wechseln zwischen verschiedenen Zeitzonen barg gewisse Schwierigkeiten, was die Dosierung anbelangte, besonders wenn man nicht wissen durfte, was genau man da schluckte. Was immer die Arzte in Basel ihm schickten, er sah es nie in der Form, in der es ursprünglich hergestellt worden war. Deshalb konnte er unmöglich herausfinden, worum es sich dabei handelte. Das geschah absichtlich so, wie sie ihm erklärt hatten, und war für seine Behandlung notwendig. Alles wurde neu verpackt, in nichtssagende weiße Gelatinekapseln unterschiedlicher Größe, die er nicht öffnen durfte.
Die leere weiße Pillenpackung mit ihren winzigen, in präziser Handschrift und violetter Tinte verfassten Hinweisen zu Uhrzeit und Datum hatte er tief in die Tasche an der Rückseite des Sitzes vor sich geschoben. Sie würde im Flugzeug bleiben, wenn sie in Heathrow ankamen. So etwas nahm man nicht mit zur Zollabfertigung.
Sein Reisepass lag auf seiner Brust, unter seinem Shirt, in einem Faraday-Beutel, der die Informationen auf dem integrierten RFID-Tag schützen sollte. Das Ausspionieren von RFIDs war eine von Sleights Macken. Radio-frequency identification, die Identifizierung mit Hilfe elektromagnetischer Wellen. Anscheinend fanden diese Tags breite Verwendung, und sie waren in sämtlichen neueren US-amerikanischen Reisepässen enthalten. Sleight selbst liebte es, RFIDs auszuspionieren, was vermutlich einer der Gründe war, weshalb ihm diese Praxis solches Kopfzerbrechen bereitete. Man konnte in der Eingangshalle eines Hotels sitzen und aus der Ferne Informationen von den Reisepässen amerikanischer Geschäftsleute sammeln. Der Faraday-Beutel, der sämtliche Funksignale blockierte, machte das unmöglich.
Milgrims Neo-Handy war ein weiteres Beispiel für Sleights Sicherheitsfimmel oder wohl eher Kontrollwahn. Es hatte eine unvorstellbar winzige Displaytastatur, die man nur mit einem Stift bedienen konnte. In der Klinik hatte es geheißen, Milgrims Hand-Auge-Koordination sei recht gut; dennoch musste er sich konzentrieren wie ein Juwelier, wenn er eine Nachricht senden wollte. Schlimmer noch, Sleight hatte das Handy so programmiert, dass es das Display sperrte, wenn länger als dreißig Sekunden keine Eingabe erfolgte. Milgrim musste also jedes Mal sein Passwort neu eingeben, wenn er länger als neunundzwanzig Sekunden über etwas nachdachte. Er hatte sich darüber beschwert, aber Sleight hatte ihm erklärt, dass möglichen Angreifern damit nur ein Fenster von dreißig Sekunden blieb, um sein Telefon zu hacken und die Informationen herunterzuholen, und dass er ihm nicht gestatten konnte, die Einstellungen selbsttätig zu ändern.
Das Neo schien weniger ein Telefon als vielmehr eine Tabula rasa zu sein, die Sleight ständig von überallher aktualisieren konnte. Er war in der Lage, neue Apps hinzuzufügen oder alte zu entfernen — ohne Milgrims Wissen oder Zustimmung. Gelegentlich litt das Neo außerdem unter etwas, das Sleight »Kernel Pank« nannte. Dann stürzte es ab und musste neu gestartet werden - ein Zustand, der Milgrim vertraut vorkam.
In letzter Zeit verfiel er allerdings nicht mehr so schnell in Panik. Und wenn doch, gelang es ihm in der Regel, sich selbst neu zu starten. Seine Verhaltenstherapeutin in der Klinik hatte ihm erklärt, dass das eher eine Begleiterscheinung von anderen Dingen war. Milgrim befasste sich deshalb lieber nicht so genau mit diesen Begleiterscheinungen, aus Furcht, dass sie eines Tages wieder verschwinden könnten. Nach Meinung seiner Therapeutin hatten seine Angstgefühle aber vor allem deshalb nachgelassen, weil er nicht mehr so regelmäßig Benzos nahm.
Anscheinend nahm er inzwischen gar keine mehr, nachdem er in der Klinik schrittweise auf Entzug gesetzt worden war. Er war sich nicht ganz sicher, wann genau er damit aufgehört hatte, welche zu nehmen, weil das an den anonymen Kapseln nicht zu erkennen war. Und er hatte eine ganze Menge davon geschluckt, wobei einige davon verschiedene Nahrungsergänzungsmittel enthalten hatten. Die Klinik arbeitete auf der Grundlage irgendeines obskuren naturheilkundlichen Ansatzes, den Milgrim für typisch schweizerisch hielt. In anderer Hinsicht war die Behandlung aber auch ziemlich aggressiv gewesen, von wiederholten Bluttransfusionen bis hin zum Gebrauch einer Substanz, die die Bezeichnung »paradoxer Antagonist« trug. Letztere führte bei Milgrim zu überaus seltsamen Träumen, in denen er leibhaftig von einem paradoxen Antagonisten verfolgt wurde, einer
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