System Neustart
Stoßverkehr auf der Marylebone Road fiel ihr ein Motorradkurier auf, der eine Samurairüstung aus Kunststoff trug; die Rückseite seines gelben Helms war zerschrammt, als hätte ihn eine große Katze mit ihren Krallen nur knapp verfehlt - die Fiberglasverkleidung war mit silberfarbenem Gewebeband repariert, das sich bereits ablöste. Irgendwie schien er sie immer wieder zu überholen, indem er zwischen den Fahrspuren an ihnen vorbeischoss. Sie hatte nie begriffen, wie das möglich war.
»Hoffentlich finde ich Milgrim am Bahnhof.«
»Keine Angst«, sagte Jacob. »Sie werden ihn zu Ihnen bringen.«
Unermessliche Weite, von himmelblauen Stahlträgern gestützt. Die Geräuschkulisse ohrenbetäubend. Tauben, die zielstrebig ihrem Tagwerk nachgingen. Niemand baute Bahnhöfe wie die Europäer — und die Briten, dachte sie, übertrafen sie alle. Vertrauen in die Infrastruktur, gepaart mit dem aus der Notwendigkeit geborenen Talent, Gebäude zu modernisieren.
Einer von Bigends schlaksigen, eleganten Fahrern schritt, die Hand am Ohrhörer, auf sie zu, Milgrim im Schlepptau wie ein sonntägliches Ruderboot. Dieser schaute sich um wie ein Kind und strahlte über das ganze Gesicht — ein kleiner Junge, der die blauen Stahlträger bestaunte, sich von der Matchbox-Erhabenheit des weitläufigen Bahnhofs beeindrucken ließ.
Als sie ihnen entgegenging, fing eines der Räder ihres Rollkoffers zu klackern an.
20. Erweiterte Realität
Milgrim blickte von den großformatigen, glänzenden Seiten von Presences: Locative Art in America auf und sah, dass Hollis ebenfalls las. Ein schwarzes, leinengebundenes Buch ohne Schutzumschlag.
Sie befanden sich irgendwo unter dem Kanal und hatten Plätze in der Business Premier-Klasse, wo es WLAN gab und Croissants zum Frühstück. Oder doch kein WLAN, sondern irgendeine Funkverbindung, für die etwas gebraucht wurde, das Hollis als »Dongle« bezeichnet hatte. Sie hatte das Gerät für ihn in die Seite ihres MacBook gesteckt, nachdem er sich den Laptop von ihr geliehen hatte - ein merkwürdig dünnes, das die Bezeichnung »Air« trug. Er hatte sich bei Twitter eingeloggt, um nachzusehen, ob Winnie etwas geschrieben hatte. Es waren jedoch keine neuen Nachrichten eingetroffen. »Fahren gerade durch Kent«, hatte er geschrieben und es gleich wieder gelöscht. Als Nächstes hatte er »Hollis Henry« gegoogelt und ihren Wikipedia-Eintrag gefunden. Es war merkwürdig gewesen, ihn zu lesen, während sie ihm auf der anderen Seite des Tisches gegenübersaß, obwohl sie nicht sehen konnte, was er sich gerade anschaute. Seit sie sich im Tunnel befanden, gab es auch kein Telefon mehr.
In einem zurückblickenden Artikel von 2004 hieß es, auf der Bühne hätte sie ausgesehen wie eine »waffenfähig gemachte Françoise Hardy«. Er war nicht ganz sicher, ob er dem zustimmen würde, und er hatte auch Françoise Hardy gegoogelt, um einen direkten Vergleich zu haben. Seiner Meinung nach war Hardy in weitaus konventionellerem Sinne hübsch. Außerdem wusste er nicht recht, was »waffenfähig gemacht« in diesem Zusammenhang bedeuten sollte. Der Ver fasser des Artikels wollte wohl etwas einfangen, was Hollis während ihrer Live-Auftritte ausgestrahlt hatte.
Sie entsprach nicht gerade Milgrims Vorstellung von einer Rocksängerin, soweit er überhaupt eine solche hatte. Stattdessen sah sie aus wie jemand, der in seinem Job keinen Kleidervorschriften unterworfen war. Und genau so einen Job hatte sie schließlich auch bei Bigend.
Als er mit dem Laptop fertig war, hatte sie ihm ein Exemplar des Buches gegeben, das sie selbst geschrieben hatte. »Leider besteht es vor allem aus Bildern«, hatte sie gesagt, als sie den Reißverschluss einer Seitentasche ihres schwarzen Koffers aufgezogen und einen glänzenden, eingeschweißten Wälzer hervorgeholt hatte. Auf dem Cover prangte die Farbfotografie mehrerer großer, nackter Statuen, die überaus schlanke, kleinbrüstige Frauen mit identischen helmartigen Frisuren und passenden Armreifen darstellten und aus einem kleinen Blumenbeet herauszuwachsen schienen. Sie sahen aus, als würden sie aus erstarrtem Quecksilber bestehen, auf dessen Oberfläche sich ihre Umgebung spiegelte. Auf der Rückseite war dasselbe Bild zu sehen, nur ohne die heroisch-erotischen Flüssigchromstatuen; dafür war jetzt ein Schild zu sehen, das sie verdeckt hatten: Chateau Marmont.
»Das ist ein Denkmal für Helmut Newton«, hatte sie gesagt. »Er hat dort eine Weile gelebt.«
»Das Bild auf
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