System Neustart
das jemand anderes gewesen, mit Anfang zwanzig. Diese mysteriöse Wiederholung der Vergangenheit, für die sich seine Therapeutin in Basel so brennend interessiert hatte. Ein jüngeres, hypothetisches Ich. Bevor sich alles zum Schlechteren gewendet hatte. Damals war er allerdings auch schon oft nicht mehr anwesend gewesen. Jedenfalls so oft wie möglich.
»Glotz nicht so«, sagte er zu der Schneiderpuppe, als er sein Zimmer betrat. »Ich wünschte, ich hätte ein Buch.« Es war schon eine Weile her, seit er das letzte Mal etwas nur zum Vergnügen gelesen hatte. Eigentlich seit dem Beginn seiner Rehabilitation nicht mehr. In seinem Zimmer gab es ein paar aufwendig gebundene und merkwürdig neutrale Bookazines, die von den Zimmerfrauen täglich neu angeordnet wurden, aber er hatte schon einmal einen Blick hineingeworfen und wusste deshalb, dass es sich nur um Reklame dafür handelte, wie wunderbar es war, reich zu sein — reich und zutiefst phantasielos.
Er würde in Paris nach einem Buch schauen.
Seine Therapeutin hatte einmal gesagt, Lesen sei möglicherweise seine Einstiegsdroge gewesen.
19. Presences
Während sie Kosmetika und Toilettenartikel in ihren Kulturbeutel warf, bemerkte sie, dass die Blue-Ant-Figurine nicht mehr auf der Ablage stand - ihr Totem, dem es nicht gelungen war, Bigend von ihr fernzuhalten. Wahrscheinlich hatte das Zimmermädchen sie gestern woanders hingestellt. Seltsam. Sie zog den Reißverschluss des Beutels zu. Warf einen prüfenden Blick in den Spiegel. Eine Stimme mit BBC-Tonfall wallte sanft aus dem verschnörkelten Bronzegitter.
Vorbei an den beschlagenen Glasscheiben und vernickelten Stoßstangen der H.G.Wells-Dusche, über denen jetzt mehrere Handtücher hingen.
Als sie sich in Nr. 4 umschaute, in der Hoffnung, etwas zu entdecken, was sie einzupacken vergessen hatte, sah sie die drei noch ungeöffneten Kartons der britischen Ausgabe ihres Buches. Ihr fiel ein, dass Milgrim, als sie ihn auf dem Weg zu der Tapasbar kennengelernt hatte, Interesse geäußert hatte. Bigend hatte die Sprache darauf gebracht, natürlich. Milgrim schien für einen Moment ganz angetan gewesen zu sein von der Vorstellung, dass sie ein Buch geschrieben hatte.
Sie würde eins für ihn mitnehmen.
Sie hievte einen entsetzlich schweren Karton auf das ungemachte Bett und benutzte das Kapselmesser an dem viktorianischen Korkenzieher des Zimmers, um das durchsichtige Klebeband aufzuschlitzen. Als sie den Karton öffnete, entströmte ihm ein Buchhandlungsgeruch, allerdings kein angenehmer. Trocken, chemisch. Und da waren sie — quadratisch und einzeln eingeschweißt: Presences von Hollis Henry. Sie nahm ein Exemplar heraus und schob es in die Seitentasche ihres Rollköfferchens.
Dann hinaus, den schwer fassbaren grünen Korridor entlang, in den Fahrstuhl und abwärts, in das nach Kaffee duftende Foyer, wo ihr ein schildpattbebrillter junger Mann einen aufgeschäumten Milchkaffee in einem weißen Pappbecher mit einem weißen Plastikdeckel überreichte und ihr einen Cabinet-Regenschirm anbot.
»Wartet der Wagen schon?«
»Ja«, sagte er.
»Dann brauche ich den Schirm nicht, vielen Dank.«
Er trug den Rollkoffer für sie hinaus und legte ihn in den bereits offen stehenden Kofferraum des schwarzen BMW, der von dem bärtigen jungen Mann gesteuert wurde, der sie bei Blue Ant hereingelassen hatte.
»Jacob«, sagte er und lächelte. Er trug eine Motorradjacke aus gewachster Baumwolle. Die Jacke verlieh ihm an diesem regnerischen Morgen einen fast schon post-apokalyptischen Elan, fand sie. Die Requisite hätte ihm nur noch eine Sten-MP mitgeben sollen oder irgendeine andere Waffe, die aussah, als wäre sie von einem Klempner gebaut.
»Natürlich«, sagte sie. »Vielen Dank fürs Abholen.«
»Der Verkehr ist nicht so schlimm.« Er hielt ihr die Tür auf.
»Wir treffen uns mit Mr. Milgrim?« Als er hinter das Steuer glitt, bemerkte sie den drahtlosen Ohrhörer, den er trug.
»Geht alles klar. Wird abgeholt. Bereit für Paris?«
»Ich hoffe doch«, sagte sie, als er sich in den Verkehr einfädelte.
Gloucester Place. Wäre sie zu Fuß gegangen, hätte sie stattdessen die Baker Street genommen, von der sie als Kind geträumt hatte und die, selbst in diesem Stadium vorgeblichen Erwachsenseins, noch immer einen leichten Stich der Enttäuschung in ihr auslöste. Aber vielleicht war ja in Paris etwas im Gange, dachte sie. Inzwischen war die Stadt nur noch eine etwas längere U-Bahn-Fahrt von hier entfernt.
Im
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