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System Neustart

System Neustart

Titel: System Neustart Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: William Gibson
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nicht zu sehen. Er setzte sich an einen Zweiertisch am Fenster und bestellte einen Kaffee und ein Croissant. Die tunesische Kellnerin ging davon. Jemand anderes brachte kurz darauf den Kaffee und ein kleines Kännchen voll heißer Milch. Er rührte gerade seinen Kaffee um, als Hollis auftauchte. Ihre Augen waren gerötet, und sie wirkte erschöpft; ihre Hounds-Jacke hatte sie sich über die Schultern gelegt.
    Sie setzte sich, ein zusammengeknülltes Taschentuch in der Hand.
    »Stimmt etwas nicht?«, fragte Milgrim, von einem Überrest Furcht und Trauer aus seiner Kindheit gepackt. Die Kaffeetasse hatte er halb zum Mund erhoben.
    »Ich habe nicht geschlafen«, sagte Hollis. »Jemand, den ich gut kenne, hat einen Unfall gehabt. Deshalb bin ich nicht ganz auf der Höhe. Tut mir leid.«
    »War es sehr schlimm?« Er setzte die Tasse auf dem Unterteller ab. Die Kellnerin kam mit seinem Croissant, ein wenig Butter und einem winzigen Marmeladengläschen.
    »Kaffee, bitte«, sagte Hollis zu der Kellnerin. »Der Unfall ist schon eine Weile her. Aber ich habe gestern Abend erst davon erfahren.«
    »Und Ihrem Bekannten, wie geht es dem?« Milgrim hatte bei dem Gespräch das Gefühl, dass er — wie er einmal seiner Therapeutin erklärt hatte - ein geselliges Wesen mimte, das er eigentlich nicht war.
    Nicht, dass ihn der Schmerz in Hollis' Augen oder das Schicksal ihres Bekannten kaltgelassen hätte, aber die Situation erforderte eine Sprache, die er einfach nie gelernt hatte.
    »Er ist ein guter Freund von mir«, sagte Hollis, als ihr Kaffee eintraf.
    »Was ist passiert?«
    »Er ist vom höchsten Gebäude der Welt gesprungen.« Ihre Augen weiteten sich, als sei ihr die Absurdität ihrer Worte gerade erst klargeworden, und dann schloss sie sie fest.
    »In Chicago?«, fragte Milgrim.
    »Chicago ist schon seit Jahren aus dem Rennen, glaube ich«, sagte sie und öffnete wieder die Augen. »Dubai.« Sie goss etwas Milch in ihren Kaffee. Ihre Bewegungen waren jetzt sehr geschäftsmäßig und präzise.
    »Wie geht es ihm?«
    »Ich weiß es nicht«, sagte sie. »Er wurde in ein Krankenhaus in Singapur geflogen. Wegen seinem Bein. Ein Auto hat ihn angefahren. Ich weiß nicht, wo er ist.«
    »Sie haben gesagt, er sei von einem Gebäude gesprungen«, sagte Milgrim beinahe vorwurfsvoll, obwohl er es nicht beabsichtigt hatte.
    »Er hat im freien Flug einen Fallschirm geöffnet. Und ist mitten im Straßenverkehr gelandet.«
    »Warum?« Milgrim rutschte unruhig auf seinem Stuhl hin und her. Irgendwie hatte er das Gefühl, als hätte ihn sein Drehbuch im Stich gelassen.
    »Er brauchte eine glatte, ebene Fläche zum Landen, ohne irgendwelche Kabel.«
    »Ich meinte, warum ist er gesprungen?«
    Sie runzelte die Stirn und nippte an ihrem Kaffee. »Er sagt, es sei so, als würde man durch Wände gehen. Das ist zwar eigentlich nicht möglich, aber wenn es möglich wäre, dann wäre es dasselbe Gefühl. Nur dass die Wand in einem selbst ist und man tatsächlich durch sie hindurch muss.«
    »Ich habe Höhenangst.«
    »Er auch. Sagt er. Oder hat er jedenfalls gesagt. Ich habe ihn schon lange nicht mehr gesehen.«
    »Waren Sie mit ihm zusammen?« Milgrim hatte keine Ahnung, wie er darauf gekommen war. Seine Therapeutin hatte ihm immer Vorträge darüber gehalten, dass er nicht in der Lage war, auf seinen Instinkt zu hören.
    Sie sah ihn an. »Ja«, sagte sie.
    »Wissen Sie, wo er jetzt ist?«
    »Nein.«
    »Wissen Sie, wie Sie mit ihm in Kontakt treten können?« »Ich habe eine Telefonnummer«, sagte sie. »Aber die soll ich eigentlich nur anrufen, wenn ich in Schwierigkeiten stecke.« »Und ist das nicht gerade der Fall?«
    »Ich bin unglücklich. Besorgt. Traurig. Das ist nicht dasselbe.«
    »Aber wollen Sie denn, dass das so bleibt?« Milgrim hatte das Gefühl, als hätte er sich in einem merkwürdigen Rollentausch in seinen eigenen Therapeuten verwandelt — oder vielmehr in Hollis' Therapeuten. »Wie wollen Sie über Ihre Besorgnis hinwegkommen, wenn Sie nicht in Erfahrung bringen, wie es ihm geht?«
    »Essen Sie mal lieber«, sagte Hollis scharf und deutete auf sein Croissant. »Unser Taxi kommt bald.«
    »Tut mir leid«, sagte er. Er fühlte sich plötzlich sehr elend. »Es geht mich nichts an.« Er fummelte an der Papierversiegelung auf dem Deckel des winzigen Marmeladengläschens herum.
    »Nein, mir tut es leid. Sie haben es ja nur gut gemeint. Die Sache ist für mich sehr kompliziert. Und ich habe nicht geschlafen. Ich habe es ziemlich lange

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