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System Neustart

System Neustart

Titel: System Neustart Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: William Gibson
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dem gemacht, was er war, oder glaubte dies jedenfalls; hatte ihn aus dem Wrack zusammengeschustert, das er aufgelesen hatte. Typisch Bigend, dachte sie, ließ den Kopf gegen das Polster sinken und schloss die Augen. Wahrscheinlich tat er mit ihr dasselbe, oder würde es tun, wenn es ihm möglich war.
    Sie war eingeschlafen, bevor sie den Tunnel erreichten.

36. Essig und braunes Papier
    Als Milgrim Hollis in der Business Class gegenübersaß und sich mit dem Computer vertraut machte, den er immer noch als ihren betrachtete, loggte er sich nicht gleich bei Twitter ein. Stattdessen öffnete er das Lesezeichenmenü und klickte die URL der Seite an, wo das Foto von Laubfrosch mit seiner olivbraunen Jacke und dem schwarzen Pornobalken zu finden war.
    Er scrollte nach unten, an weiteren Jacken vorbei, die von anderen jungen Männern mit dunklen Balken im Gesicht getragen wurden, bis zu einem Foto, auf dem ein Paar Hände mit schwarzen Handschuhen abgebildet war. »Kevlar-Innenfutter«, stand darunter, »für erhöhte Schnittbeständigkeit. Klett-Verschlussband mit geprägtem Logo. Ausgezeichnetes Haftvermögen für einen besseren Griff bei Festnahmen.«
    Da er auch schon das ein oder andere Mal festgenommen worden war, blinzelte er und runzelte die Stirn. Allerdings erinnerten ihn die Handschuhe eher an Fionas Motorradausrüstung. Er sah wieder ihr blasses Kinn über dem hochgeschlossenen Kragen ihrer schwarzen Jacke vor sich. Und hatte das Gefühl, als hätte ein Flügel ihn berührt.
    Schuldbewusst blickte er über den Tisch zu Hollis hinüber, aber sie schlief offenbar. Ihre Augen waren verquollen. Er versuchte sich vorzustellen, wie ihr Freund vom höchsten Gebäude der Welt sprang.
    Dann richtete er den Blick wieder auf die speziell für Festnahmen geeigneten Handschuhe. Was war das für ein geprägtes Logo? Davon stand nichts in der Beschreibung. Die ganze Webseite war so. Keine Markennamen. Alles wirkte skizzenhaft und halbfertig. Keine Kontaktinformationen. Warum war Laubfrosch auf dieser Seite? Woher hatte Winnie gewusst, wo sie ihn finden konnte? Bigend hatte ihm einmal von sogenannten »Geisterseiten« erzählt — Webseiten nicht mehr existierender Firmen oder Produktlinien, die weiter fortbestanden, von allen vergessen und von niemandem besucht. Handelte es sich hier um eine solche Seite oder um etwas noch Unvollendetes? Irgendwie wirkte sie nicht recht überzeugend und ein wenig amateurhaft.
    Er rief Google auf und tippte »Winnie Tung Whitaker«. Und hielt inne. Ihm fiel wieder ein, wie sich Bigend und Sleight einmal über eine Sammlung von Suchbegriffen unterhalten hatten und ob es möglich war, darauf Zugriff zu erhalten. Er stellte sich vor, wie Winnies Organizer ihr mitteilte, dass soeben jemand ihren Namen gegoogelt hatte. Wäre das möglich? Nachdem Bigend ihn in die gegenwärtige Iteration des Internets eingeführt hatte, war er zu dem Schluss gekommen, zunächst einmal alles für möglich zu halten. Zwar hatte er zu seiner Enttäuschung oft erfahren müssen, dass etwas doch nicht machbar war. Aber Vorsicht war besser als Nachsicht.
    Er loggte sich aus Twitter aus, ohne zu schauen, ob eine Nachricht von Winnie eingetroffen war. Er wollte sich nicht gleich nach seiner Ankunft in London mit ihr treffen müssen. Schließlich hatte er eine Verabredung mit Bigend. Er schloss auch seine Webmail. Und sah sich Hollis' Weltraumansicht gegenüber. Er verwandelte das Desktopbild in ein schlichtes Hellgrau. So war es besser.
    Der Zug fuhr in den Tunnel.
    Der rote Dongle öffnete ein Fenster mit der Mitteilung, dass Milgrim keine Verbindung mehr hatte.
    Nun konnte ihn niemand erreichen. Jedenfalls nicht auf elektronischem Wege.
    Hollis' Gesicht war gegen die Kopfstütze gedrückt, aber ihre Stirn wirkte entspannt. Die Hounds-Jacke war zu Boden geglitten. Er beugte sich vor und hob sie auf. Sie war schwerer, als er erwartet hatte, das Material fester und steifer. Er knöpfte sie zu und faltete sie sorgfältig, wie ein Verkäufer in einem Bekleidungsgeschäft ein Hemd zusammenlegen würde. Sie lag auf seinem Schoß - der Kern eines der Rätsel, für die Bigend sich interessierte.
    Das rechteckige Etikett bestand aus schwerem, steifem, hellbraunem Leder, in das ein vierbeiniges Tier eingebrannt war, dessen Kopf nicht richtig zum Körper zu passen schien.
    Er schloss die Augen und lehnte den Kopf nach hinten. Der Zug raste durch eine Röhre unter dem Ärmelkanal. Nannten die Franzosen den Kanal auch so? Er wusste es

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