System Neustart
Tweed hatte Ärmel aus gewachster Baumwolle.
Das Büro im Hinterzimmer von Tanky&Tojo war ordentlicher und weniger schäbig, als sie erwartet hatte. Nirgendwo waren Anzeichen dafür zu sehen, dass Angestellte sich hier langweilten und nach einem Zeitvertreib suchten oder ihren Arbeitsplatz mit humorvollen Sprüchen verzierten. Die Wände waren erst kürzlich grau gestrichen worden. Auf billigen weißen Regalen eingeschweißte Ware, Schuhkartons, Stoffmusterbücher.
»Milgrim und Sleight waren in South Carolina«, sagte Bigend und setzte sich hinter den kleinen weißen Ikea-Schreibtisch. Eine der Ecken war abgebrochen und ein Material zum Vorschein gekommen, das an gepresstes Müsli erinnerte. Sie setzte sich auf einen pilzförmigen Schminkhocker, der sehr nach Achtziger aussah und mit hellviolettem Velours bezogen war — möglicherweise das letzte Überbleibsel eines Vorgängergeschäftes. »Dank Sleight konnten wir uns den Prototyp eines Kleidungsstücks anschauen. In der Branche waren darüber bereits interessante Gerüchte im Umlauf. Als wir allerdings die Bilder und Schnittmusterpausen bekamen, konnten wir das nicht ganz nachvollziehen. Unsere beste Analystin hält das nicht für ein taktisches Design. Eher etwas für Großstadtninjas.«
»Für was?«
»Für die Bevölkerungsgruppe der neuen Traumtänzer.« »Ich kann Ihnen nicht folgen.«
»Junge Männer, die mit ihrer Kleidung den Eindruck erwecken wollen, sie hätten besondere Fähigkeiten. Eigentlich eine Art Kostümspiel, das inzwischen weitverbreitet ist. Viele kleine Jungs spielen gerne Krieg. Die wirklich mächtigen Männer gehören natürlich nicht dazu. Und diejenigen, die bald in ihre Positionen aufrücken werden, ebenso wenig. Die Männer, die wirklich Soldaten sein müssen, selbstverständlich auch nicht. Aber viele von den anderen sind ausrüstungsgeil, in gewissem Maße jedenfalls.«
»Ausrüstungsgeil?«
Bigend bleckte die Zähne. »Wir haben ein Team von Kulturanthropologen gebeten, amerikanische Soldaten zu befragen, die aus dem Irak zurückgekommen sind. Da ist der Begriff öfter aufgetaucht, allerdings hat er dort nicht seinen Ursprung. Er ist auch nicht nur abfällig gemeint. Es gibt echte Profis, die diese Ausrüstung benötigen - einige jedenfalls. Auch wenn sie im Allgemeinen weniger fasziniert von ihr zu sein scheinen. Aber genau diese Faszination interessiert uns natürlich.«
»Inwiefern?«
»Es geht um die fixe Idee, nicht nur das Richtige zu haben, sondern auch etwas Besonderes. Ausrüstungsfetischismus. Die Kostüme und Semiotik bestimmter Eliteeinheiten. Das ausgeprägte Verlangen, dasselbe zu besitzen und dadurch mit ebendieser Welt in Verbindung gebracht zu werden. Mit ihrer Kompetenz, ihrer anmaßenden Exklusivität.«
»Klingt für mich wie Mode.«
»Genau. Hosen, aber eben die richtigen. Einen solchen Brennpunkt, auf den sich das Verlangen der Konsumenten richtet, hätten wir niemals konstruieren können.«
»Für mich ist das nichts.«
»Sie sind eine Frau.«
»Möchten diese Jungs Soldaten sein?«
»Nicht sein. Sie möchten sich mit ihnen identifizieren. Wenn auch nur insgeheim. Sie möchten sich vorstellen, dass sie für Soldaten gehalten oder zumindest mit dem Militär in Verbindung gebracht werden. So gut wie keines dieser Produkte wird jemals auch nur entfernt für den Zweck verwendet werden, für den es gedacht ist. Das trifft natürlich auf fast alles zu, was in traditionellen Armeeläden angeboten wird. Das sind eigene Universen, in denen männliche Sehnsüchte befriedigt werden. Aber dieser Grad von Verbrauchermotivation, den wir da erleben, die Tatsache, dass es sich dabei oft um Luxusartikel mit den entsprechenden Preisen handelt ... das ist neu.
Als ich darauf aufmerksam gemacht wurde, habe ich mich gefühlt wie ein Neurochirurg, der einen Patienten untersucht, dessen Nervensystem von Geburt an völlig bloßliegt. Es ist alles so offensichtlich! Wirklich phantastisch.«
»Und das Ganze ist mit Aufträgen von der Armee verknüpft?«
»In hohem Maße - wobei das alles nicht ganz so einfach ist. Auf der Herstellerseite sind oft dieselben Leute involviert. Aber der typische zivile Käufer, der Traumtänzer des 21. Jahrhunderts, braucht diese Sachen genauso dringend, wie ein Mod im Jahr 1965 ein Jackett mit der richtigen Kragenbreite brauchte.«
»Klingt für mich ziemlich albern.«
»Das ist fast ausschließlich eine Sache für Jungs.«
»Fast«, stimmte sie ihm zu, wobei sie an Heidis
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